September 2021
Papst Paul VI. hat eine Rede gehalten, die ich ohne zu zögern als historisch bezeichnen würde. …Wenn ich sage, dass diese Rede von historischer Bedeutung ist, dann beziehe ich mich dabei auf die gesamte Geschichte der katholischen Kirche und folglich auf die Geschichte der Menschheit überhaupt. Paul VI. hat nämlich explizit zugegeben, dass die Kirche von der Entwicklung der Welt überholt worden ist; dass ihre gesellschaftliche Rolle sich mit einem Mal als fragwürdig, ja überflüssig erweist; dass die wirklichen Herrschaftszentren sie nicht mehr gebrauchen können und sie deshalb einfach fallen lassen; dass die sozialen Probleme heute innerhalb einer Gesellschaft gelöst werden, in der die Kirche kein Prestige mehr genießt; …
Paul VI. sieht zwar die drohende Gefahr eines Untergangs der Kirche und spricht sie in dramatischer Offenheit aus, ist aber nicht imstande, einen Weg aufzuzeigen, wie der Gefahr zu begegnen ist. … Vielleicht ist das Ende der Kirche schon besiegelt durch den „Verrat“ von Abermillionen von Gläubigen, die sich zur Weltlichkeit und zum konsumistischen Hedonismus bekehrt haben und besiegelt durch den „Beschluss“ der Herrschenden, die inzwischen sicher sind, unter den Bedingungen des Wohlstands und einer den Massen verordneten Ideologie – die es nicht einmal nötig hat, als solche aufzutreten – diese Exgläubigen fest im Griff zu haben. …
Die Kirche hat zwar in der langen Geschichte ihres Regimes viele Fehler begangen, doch den schwersten von allen, den würde sie dann begehen, wenn sie passiv zusähe, wie sie von einer Macht liquidiert wird, die mit dem Evangelium ihren Spott treibt. Im Rahmen einer radikalen, vielleicht utopistischen oder auf die Endzeit ausgerichteten Perspektive ist deshalb klar, was die Kirche tun müsste, um ein ruhmloses Ende zu vermeiden. Sie müsste in die Opposition gehen. … Sie müsste in die Opposition gehen gegen jene weltliche Macht, die sie so zynisch hat fallen lassen und die dabei ist, sie kurzerhand auf reine Folklore zu reduzieren. …
In einem solchen Kampf, der im übrigen auf eine lange Tradition zurückblicken kann, könnte die Kirche die Führung übernehmen, eine gewaltige, doch nicht autoritäre und vor allem nicht nach der Eroberung der Macht strebende Führung. Sie könnte all diejenigen Kräfte zusammenfassen, die sich der neuen Herrschaft des Konsums nicht beugen wollen, einer Herrschaft, die vollkommen irreligiös, totalitär, gewalttätig, scheintolerant – oder besser: repressiver denn je, korrupt und entwürdigend ist (die Marx’sche Bemerkung, dass das Kapital die menschliche Würde zum Tauschwert macht, war nie so aktuell wie heute). Für diese Verweigerung könnte die Kirche zum Symbol werden, indem sie zu ihren Ursprüngen, zur Opposition und zur Revolte zurückkehrt.
Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin: Wagenbach, 1978 (Quarthefte 96), S. 90, 92 f. (Ursprünglich in Corriere della Sera 1974).