Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Giovanni di Boccaccio


März 2020

Giovanni di Boccaccio
Über die Pandemie von 1348

Seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes waren 1348 Jahre verstrichen, als in die herrliche Stadt Florenz, die alle anderen italischen Städte an Schönheit überragt, die todbringende Pest gekommen ist, die, entweder durch die Einwirkung der Himmelskörper oder wegen unseres schlechten Wandels von dem gerechten Zorne Gottes zu unserer Besserung über die Sterblichen geschickt, einige Jahre vorher in den östlichen Ländern begonnen, diese einer unzähligen Menge von Menschen beraubt und sich unaufhaltsam von Ort zu Ort vordringend, grausam nach Westen verbreitet hat. Umsonst war da alle Klugheit oder menschliche Vorsicht, mit der die Stadt durch dazu bestellte Beamte von vielen Unsauberkeiten gereinigt und jedem Kranken der Eintritt verwehrt und mancher Rat zur Erhaltung der Gesundheit gegeben wurde, und umsonst waren die demütigen Gebete, die nicht einmal, sondern oft, sowohl in angeordneten Bittgängen als auch in anderer Weise von den Frommen an den Herrgott gerichtet wurden.

Etwa zu Frühlingsanfang des genannten Jahres begann sie ihre schmerzensreichen Wirkungen auf eine grässliche und erstaunliche Art zu zeigen. … Zur Heilung dieser Krankheit schien weder der Rat eines Arztes noch irgendeine Arznei etwas zu vermögen oder von Vorteil zu sein; ob es nun die Natur der Seuche nicht zuließ, oder ob die Ärzte … in ihrer Unwissenheit nicht erkannten, woher sie rühre, und folglich nicht die richtigen Mittel anwandten, jedenfalls genasen nur sehr wenige, während schier alle binnen drei Tagen von dem Auftreten der Zeichen, der eine rascher, der andere langsamer … starben. Und diese Pest war noch schrecklicher dadurch, dass sie von denen, die daran erkrankt waren, durch den Verkehr auf die Gesunden übergriff, nicht anders als das Feuer mit trockenen oder fetten Dingen tut, wenn sie in seine nächste Nähe gebracht werden. Und das war noch nicht das ärgste; denn nicht nur das Sprechen oder der Umgang mit den Kranken teilte den Gesunden die Krankheit oder den Keim des gemeinsamen Todes mit, sondern es stellte sich auch heraus, dass schon die Berührung der Kleider oder irgendeines anderen Gegenstandes, den die Kranken berührt oder gebraucht hatten, den Berührenden mit dieser Krankheit ansteckte. …

Diese … Vorfälle erzeugten bei denen, die am Leben geblieben waren, mancherlei Angst und Einbildungen, und schier alle strebten dem einen, gar grausamen Ziele zu, die Kranken und deren Sachen zu meiden und zu fliehen: Und durch diese Handlungsweise glaubte jedermann seine eigene Rettung zu finden. Und da waren manche, die dachten, dass ein mäßiges Leben, wobei man sich vor aller Üppigkeit hüte, die Widerstandskraft erheblich fördere: Sie vereinigten sich zu Gesellschaften und lebten sonst von allen abgesondert; und indem sie sich in Häusern, wo kein Kranker war, versammelten und einschlossen, genossen sie die schmackhaftesten Speisen und den besten Wein, aber mit Maß und auf der Hut vor aller Schwelgerei, und verbrachten ihre Zeit mit Saitenspiel und all den Vergnügungen, die sie sich verschaffen konnten, ohne sich von jemand sprechen zu lassen oder sich um das, was außerhalb des Hauses vorging, weder um den Tod noch um die Kranken, zu kümmern.

Von einer gegenteiligen Meinung geleitet, behaupteten andere, die sicherste Arznei bei einem solchen Übel sei, reichlich zu trinken, sich gute Tage zu machen, mit Gesang und Scherz umherzuziehen, jeglicher Begierde, wo es nur möglich sei, Genüge zu tun und über das, was kommen werde, zu lachen und zu spotten; und wie sie sagten, setzten sie es auch nach ihren Kräften ins Werk; bei Tag und Nacht zogen sie, um ohne Maß und Ziel zu trinken, bald in diese, bald in jene Schenke, viel lieber aber noch in fremde Häuser, wenn sie nur dort etwas gemerkt hatten, was ihnen zur Freude und Lust war. Und das konnten sie leicht tun, weil jedermann all sein Eigentum geradeso wie sich selber aufgegeben hatte, als ob sein Leben verwirkt gewesen wäre; auf diese Art waren die meisten Häuser Gemeingut geworden und der Fremde schaltete damit, wenn er nur einmal drinnen war, ebenso wie der eigene Herr getan hätte. Aber samt ihrem viehischen Vorsatze mieden diese Leute die Kranken, soweit sie nur konnten.

In der verheerenden Not unserer Stadt war das ehrwürdige Ansehen der Gesetze, der göttlichen wie der menschlichen, schier völlig gesunken und vernichtet, weil ihre Verweser und Vollstrecker so wie die anderen entweder tot oder krank waren oder weil es ihnen so an Gehilfen gebrach, dass sie keine Amtshandlung vornehmen konnten: Aus diesem Grund war jeglichem erlaubt zu tun, was er wollte.

Viele andere schlugen zwischen den zwei obgenannten einen Mittelweg ein, indem sie sich weder eine solche Mäßigkeit im Essen wie die ersten auferlegten, noch im Trinken und in den anderen Ausschweifungen so ausarteten wie die zweiten, vielmehr alles zur Genüge und nach ihrer Lust genossen und sich keineswegs absperrten, sondern umhergingen, wobei der eine Blumen, der andere wohlriechende Kräuter und manche verschiedene Spezereien in den Händen trugen, um sie oft an die Nase zu führen, weil sie meinten, es sei gar gut, das Gehirn mit derartigen Wohlgerüchen zu erquicken, da die ganze Luft von dem Gestank der Leichname und der Krankheit und der Arzneien dumpf und stinkend geworden war.

Andere waren eines grausameren Sinnes – obwohl das vielleicht sicherer war – und sagten, gegen die Pest gebe es keine bessere oder ebenso gute Arznei als die Flucht: Und von diesem Grundsatze geleitet, verließen viele Leute, sowohl Männer als auch Frauen, ohne auf etwas anderes als auf sich selber bedacht zu sein, die Vaterstadt, die eigenen Häuser, ihre Würden und ihre Verwandten und ihr Gut und suchten, wenn nicht gar fremde, so doch die eigenen Landsitze auf, als ob sie der zornige Wille Gottes, die Schlechtigkeit der Menschen mit dieser Pest zu strafen, nicht an jeglichem Orte hätte erreichen können, sondern sich, einmal erregt, hätte darauf beschränken wollen, nur die zu vernichten, die sich innerhalb der Mauern ihrer Stadt fänden, oder als ob sie der Meinung gewesen wären, in dieser Stadt dürfe kein Mensch verbleiben und ihre letzte Stunde sei gekommen.

Und obwohl diese Leute mit den also verschiedenen Meinungen nicht allesamt starben, kamen doch auch nicht alle davon; vielmehr erkrankten von einer jeden Richtung viele, und die gingen dann überall, da sie zur Zeit ihrer eigenen Gesundheit denen, die auch jetzt noch gesund geblieben waren, das Beispiel gegeben hatten, von allen verlassen elendiglich zugrunde. Schweigen wollen wir davon, dass ein Bürger dem anderen aus dem Wege ging und dass sich schier niemand um seinen Nachbarn kümmerte und dass die Verwandten einander nur zu seltenen Malen oder nie oder nur von weitem sahen, aber diese Heimsuchung hatte in den Herzen der Männer und Frauen einen solchen Schauder erregt, dass ein Bruder den andern verließ oder der Oheim den Neffen und die Schwester den Bruder und oft die Frau ihren Gatten; und was gewichtiger und schier unglaublich ist, sogar die Väter und die Mütter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen, also ob sie nicht die ihrigen gewesen wären.

Aus diesem Grund blieb der unzähligen Menge derer, die krank wurden, keine andere Hilfe als entweder die Teilnahme der Freunde, und die war selten, oder die Habsucht der Wärter, die sie, durch einen hohen und unverhältnismäßigen Lohn bewogen, warteten, obwohl sich samt alledem nicht viele dazu hergaben, und die, die es taten, Männer und Frauen von grobem Sinne und zumeist in einer derartigen Dienstleistung unerfahren waren, so dass ihre ganzen Dienste schier darin bestanden, die Sachen zu bringen, die die Kranken verlangten, oder zuzusehen, wann sie starben; indem sie derartige Dienste leisteten, fanden sie oft mit dem Gewinne zugleich den Tod.

Und weil die Kranken von den Nachbarn, den Verwandten und den Freunden verlassen wurden und weil Not an Wärtern war, bürgerte sich etwas bis dahin Unbekanntes ein, dass nämlich keine Damen, wie groß auch ihre Lieblichkeit oder Schönheit oder Anmut war, wenn sie erkrankte, Bedenken trug, sich von einem Manne, ob er nun jung oder alt war, bedienen zu lassen und vor ihm ohne die mindeste Scham, wenn dies nur die Not der Krankheit erheischte, jeden Teil ihres Körpers zu entblößen, nicht anders als sie bei einer Frau getan hätte:Das wurde wohl später bei denen, die genasen, zum Anlasse einer geringeren Ehrbarkeit.

Überdies starben auch viele, die sich vielleicht, wenn sie betraut worden wären, erholt hätten: Daher war die Menge derer, die in der Stadt bei Tag und Nacht, sowohl wegen des Mangels einer gehörigen Wartung als auch wegen der Heftigkeit der Pest starben, so groß, dass es grässlich war, nur davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben.

Auf diese Weise entstanden unter den Überlebenden Gebräuche, die den früher von den Bürgern beobachteten entgegengesetzt waren. Vorher war es üblich gewesen, dass sich die verwandten und benachbarten Frauen im Hause des Verstorbenen versammelten und dort mit seinen nächsten weiblichen Angehörigen klagten: Vor dem Hause wieder versammelten sich die Nachbarn des Toten und viele andere Bürger mit seinen männlichen Verwandten, und dem Stande des Verstorbenen gemäß kam auch die Geistlichkeit dazu, und nun wurde er auf den Schultern von seinesgleichen mit einem Trauergepränge an Wachskerzen und Gesängen in die von ihm vor seinem Tode bestimmte Kirche getragen. Als nun die Heftigkeit der Pest überhandzunehmen begann, kam das alles gänzlich ab, und neue Gebräuche traten an die Stelle der alten. Die Leute starben nämlich, nicht nur ohne dass sie viele Frauen um sich gehabt hätten, sondern es waren auch gar manche, die ohne Zeugen aus diesem Leben schieden, und den wenigsten wurden die mitleidigen Klagen und die bitteren Tränen der Verwandten gewährt; dafür gab es nunmehr meistens Gelächter und Scherze und geselligen Jubel, und in diesen Gebrauch hatten sich die Frauen, die zu einem großen Teile das weibliche Mitleid hintan setzten, der eigenen Gesundheit halber trefflich geschickt. Selten kam es vor, dass eine Leiche von mehr zehn oder zwölf Nachbarn zu Kirche geleitet wurde, und es waren nicht ehrbare und angesehen Bürger, die die Bahre trugen, sondern eine Art Totengräber, die der Hefe des Volkes entstammten und sich Leichenknecht nennen ließen; und diese Leute, die das nur um Geld taten, trugen den Toten mit hastigen Schritten nicht zu der Kirche, die er vor seinem Tode bestimmt hatte, sondern zur nächstgelegenen, und vier oder sechs Geistliche gingen voraus mit wenig Lichtern und machmal überhaupt ohne Lichter und ließen den Toten, ohne sich mit einer langen Feierlichkeit zu plagen, von den besagten Leichenknechten in das erste beste Grab legen, das offenstand.

Bei den kleinen Leuten und wohl auch bei einem großen Teile des Mittelstands ging es noch viel jämmerlicher zu: Da sie entweder von der Hoffnung oder von der Armut in ihren Häusern zurück gehalten wurden und also mit der Nachbarschaft in Berührung blieben, erkrankten sie täglich zu Tausenden; und da sie weder bedient noch gepflegt wurden, starben sie fast alle rettungslos dahin. Und nicht wenige waren, die bei Tag oder Nacht auf der öffentlichen Straße verschieden; und bei vielen, die in ihren Häusern verschieden waren, erfuhren die Nachbarn erst durch den Gestank ihrer verwesenden Körper, dass sie tot waren; und der Gestank von diesen und den anderen, die überall starben, machte sich weit und breit bemerkbar. Meistens hielten sich die Nachbarn an dieselbe Maßregel, wozu sie die Furcht, dass ihnen die Verwesung der Leichname schaden könnte, nicht weniger antrieb als die Barmherzigkeit, die sie mit den Toten hatten: Sie zogen die Leichname entweder allein, oder, wenn sie Träger haben konnten, mit deren Hilfe aus den Häusern und legten sie vor die Türen, so dass einer, der dort, sonderlich am Morgen vorüberging, eine Unzahl von Leichen sehen konnte. Dann ließen sie Bahren kommen oder legten sie auch, wenn es an diesen gebrach, auf irgendein Brett. Es war nichts Außergewöhnliches, dass eine Bahre zwei oder drei auf einmal trug, und es geschah nicht etwa nur einmal, sondern man hätte eine Menge Bahren zählen können, wo Frau und Mann, zwei oder drei Brüder oder Vater und Sohn oder dergleichen beisammen lagen. Und unzählige Male geschah es, dass sich, wenn zwei Priester mit einem Kreuze einen holten, drei oder vier Bahren, die von Trägern getragen wurden, anschlossen; und hatten die Priester einen zu begraben geglaubt, so hatten sie nun sechs oder acht und bisweilen noch mehr. Freilich wurden diese weder durch eine Träne noch durch Lichter noch durch ein Geleit geehrt, vielmehr war es so weit gekommen, dass man sich um die Menschen, welche starben, nicht anders kümmerte, als man es heute bei Ziegen täte.

Daraus erhellt, dass etwas, was ein Weiser aus dem natürlichen Laufe der Dinge mit seinem kleinen und seltenen Ungemach gleichgültig zu ertragen lernt, bei einer gewissen Größe des Unheils auch von Einfältigen mit gelassener Achtlosigkeit hingenommen wird.

Da für die geschilderte große Menge Leichname, die alltäglich und fast allstündlich zu jeder Kirche gebracht wurden, die geweihte Erde nicht ausreichte, sonderlich nicht, wenn nach dem alten Gebrauche jedem hätte sein eigenes Grab gegeben werden sollen, wurden, da die Kirchhöfe allenthalben voll waren, große Gruben gemacht und die neu Hinzukommenden zu Hunderten hineingelegt; dort wurden sie, wie im Schiffsraum die Waren, Schicht auf Schicht übereinander geschichtet und mit wenig Erde bedeckt, bis die Grube bis zum Rande voll war.

Um aber unserem vergangenen Jammer, der über die Stadt gekommen ist, nicht länger bis in jede Einzelheit nachzugehen, sage ich, dass die schweren Zeitläufte, die über die Stadt dahin gingen, doch deswegen keineswegs das umliegende Land verschonten. Abgesehen von den Burgflecken, wo es in kleinerem Maße ebenso war wie in der Stadt, starben auch in den zerstreuten Weilern und in den Dörfern die elenden armen Bauern und ihre Familien, ohne dass sich ein Arzt um sie bemüht oder ihnen ein Wärter beigestanden hätte, auf den Wegen und auf ihren Feldern und in den Häusern bei Tag und bei Nacht unterschiedslos dahin, nicht wie Menschen, sondern fast wie Tiere.

Darum wurden sie geradeso wie die Städter in ihren Sitten ausschweifend und kümmerten sich nicht mehr um ihr Eigentum oder ihre Arbeit; anstatt wegen der künftigen Frucht, ihres Viehs und ihrer Äcker und ihrer früheren Mühe nach dem Rechten zu sehen, trachteten sie, als ob sie an jedem Tage, den sie anbrechen sahen, den Tod erwartet hätten, mit allen ihren Sinnen alles zu verzehren, was sie vorfanden. So geschah es denn, dass sich die Rinder, die Esel, die Schafe, die Ziegen, die Schweine und die Hühner, ja selbst die Hunde, die doch den Menschen so treu sind, aus den Häusern, wohin sie gehörten, verjagt, nach ihrem Belieben in den Feldern herumtrieben, wo noch das Getreide stand, das nicht geschnitten, geschweige denn geerntet war. Und viele von diesen Tieren kamen, nachdem sie am Tage trefflich geweidet hatten, des Nachts, wie vernünftige Wesen, ohne Führung eines Hirten gesättigt zu den Häusern zurück.

Was ließe sich – um uns wieder zur Stadt zu wenden – mehr sagen, als dass die Grausamkeit des Himmels und vielleicht auch die der Menschen so groß war, dass die Zahl der menschlichen Geschöpfe, die durch die Heftigkeit der Pestseuche und dadurch, dass viele Kranke wegen der Angst, die die Gesunden hatten, schlecht gewartet oder in ihrer Not verlassen wurden, zwischen dem März und dem Juli desselben Jahres innerhalb der Mauern der Stadt Florenz aus dem Leben gerafft worden sind, auf mehr als hunderttausend geschätzt wird. … Wie viele stolze Paläste, wie viele prächtige Häuser, wie viele adlige Wohnsitze, einst voll von Gesinde und Herren und Damen, standen nun leer bis auf den letzten Knecht! Wie viele angesehene Geschlechter, wie viele reiche Erbschaften, wie viele berühmte Reichtümer blieben ohne einen rechtmäßigen Nachfolger! Wie viele wackere Männer, wie viele schöne Frauen, wie viele anmutige Jünglinge, denen … das Zeugnis einer blühenden Gesundheit ausgestellt wurde, hatten am Morgen mit ihren Verwandten, Gesellen und Freunden gespeist, um am Abend desselben Tages in der anderen Welt mit ihren Vorfahren zu essen!

Mich widert es an, so lange durch einen solchen Jammer hin und wider zu wandern; indem ich manches übergehe, sage ich, dass es, als es mit unserer Stadt, die schier ohne Bewohner war, so stand, geschah es, dass sich sieben junge Damen, die einander als Freundinnen oder als Nachbarinnen oder als Verwandte nahestanden, in der ehrwürdigen Kirche von Santa Maria Novella trafen, wo sie fast als einzige Besucher dem Gottesdienste in Trauerkleidern beigewohnt hatten: … nach einer Weile begann Pampinea also zu sprechen: … „Wenn wir aus dieser Kirche hinaustreten, so sehen wir Leichname oder Kranke herumgetragen, oder wir sehen die ihrer Verbrechen wegen von den Gesetzen Verbannten schier zum Spott für diese Gesetze, deren Vollstrecker sie tot oder erkrankt wissen, mit abscheulichem Trotz durch die Stadt streifen, oder wir sehen den Abschaum unserer Stadt, erhitzt von unserem Blute, unter dem Namen von Leichenknechten uns zuleide überall reiten und streifen, wobei sie uns unser Unglück mit schändlichen Liedern vorwerfen. Und wir hören auch nichts anderes als ‚die und die sind gestorben‘ und ‚die und die liegen im Sterben‘; und überall würden wir schmerzlich klagen hören, wenn es Leute gäbe, die das täten. Und kehren wir in unsere Häuser zurück, befällt mich Angst, wenn ich von dem zahlreichen Gesinde niemand mehr finde als mein Mädchen, und ich fühle, wie sich mir die Haare zu Berge sträuben; und wo ich im Hause gehe und stehe, glaube ich die Schatten der Verblichenen zu sehen, und nicht mit ihren gewohnten Gesichtern, sondern sie erschrecken mich mit einem entsetzlichen Aussehen. Dieser Dinge wegen fühle ich mich hier und draußen und zu Hause unglücklich, und das um so mehr, je mehr ich daran denke, dass außer uns schier niemand, dem es möglich ist, sich zu entfernen, hier geblieben ist. …

Und wenn das so ist, was machen wir hier? Worauf warten wir? Was träumen wir? Warum sind wir, wo es sich um unser Heil handelt, träger und saumseliger als alle anderen Bürger? … Damit wir nicht aus Kleinmut oder aus Leichtsinn in ein Unglück fallen, würde ich es für das beste halten, wenn wir so, wie es viele vor uns getan haben und noch tun, diese Stadt verließen und uns, das unehrbare Beispiel der anderen wie den Tod fliehend, in ehrbarer Weise auf unsere Landgüter begäben und uns dort Freude, Annehmlichkeit und Lust, wie wir nur könnten, verschaffen, ohne die Grenze der Billigkeit irgendwie zu überschreiten. Dort hört man die Vöglein singen, dort sieht man die Hügel und die Ebenen grünen und die vollen Kornfelder nicht anders wogen als das Meer und sieht tausenderlei Bäume und den Himmel offener, der, wenn er auch ergrimmt ist, doch seine ewige Schönheit nicht verleugnet. Und die Luft dort ist weit frischer, und alles, was man in dieser Zeit zum Leben braucht, ist dort in größerer Menge, und die Trübsal ist kleiner; denn obwohl die Bauern geradeso sterben wie die Städter, so gibt es dort um so viel weniger Widerwärtigkeiten, wie die Häuser und die Bewohner dünner gesät sind als in der Stadt. … Unsere Angehörigen haben uns ja, indem sie entweder gestorben oder geflohen sind, allein unserm Ungemach überlassen. … Folgen wir diesem Rate nicht, so haben wir Schmerzen und Elend und vielleicht den Tod zu gewärtigen. Es wäre wohlgetan, wenn wir uns an diesem Orte und morgen an jenem … alle Freude und Lust verschafften, die diese Zeit bieten kann, und damit so lange fortführen, bis wir, wenn uns nicht früher der Tod überrascht, sähen, dass der Himmel diesem Unheil ein Ende vorgesehen hat.“ …

Geschrieben 1348-1353.

Giovanni di Boccaccio: Das Dekameron. Deutsch von Albert Wesselski. Erster Band. 7. Aufl. Frankfurt: Insel, 1981 (insel taschenbuch 7), S. 9-24.

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