Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Gershom Scholem


gershom-scholem.jpg

Juni 2024

Gershom Scholem: Die chassidische Legende

Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach in mystische Meditationen versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: „Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen“ – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: „Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Wald, wo all das hingehört, und das muss genügen.“ – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloss auf seinen goldenen Stuhl und sagte: „Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.“ Und – so fügt der Erzähler hinzu - seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.

Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt 1980 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 330), S. 384.

Vgl. Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. 12. Aufl. Zürich 1992 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), S. 543: Drei Geschlechter.



Copyright 2024 Elmar L. Kuhn