Januar 2021
Freude an der deutschen Geschichte habe ich mit meinem Buch zu erwecken versucht durch die Vergegenwärtigung von Ereignissen, Szenen und Gestalten; selbst da noch, wo sie in ihrer Gegenwart so ganz erfreulich nicht waren. Ernst ist das Leben, heiter die Kunst, heißt es in Schillers am tiefsten geschichtlichen Drama. Je tiefer die Dinge in die Vergangenheit entschwinden, desto weniger irdisches Schwergewicht bleibt ihnen. Leid, das einmal erlitten wurde, ist nicht mehr; Schönes erscheint. Jede Begegnung mit vergangenem Leben ist schön. …
Das eben Gesagte gilt nicht immer und überall. … Bei einem Kapitel unseres Jahrhunderts wird das Interesse zur angewiderten Neugier, die sich des Gegenstandes und die sich ihrer selber schämt.
Das ist die Ausnahme, die Regel die, dass geschichtliche Vergangenheit Freude machen kann und Geschichtsschreibung nicht zu sein verdiente, ließe sie dieses Ziel außer Acht. Vergangenheit wacht auf, sie lebt, sobald man sich in sie vertieft. Nicht so, dass praktische Ratschläge aus ihr zu gewinnen wären. Aber so, dass wir in ihr den Menschen kennen lernen und dadurch auch uns selber; die Anlagen und Möglichkeiten unseres Volkes; sein Versagen wie seine Schöpfungen; die Herkunft der Gegenwart. Wie die Geschichte arbeitet und wie die einzelnen sich in ihr bewährt haben oder nicht; wie sie das Gute wollten und irren mussten, eingefangen wurden in Konflikten, die sie nicht lösen konnten. Und was sie recht machten.
Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt: Fischer, 1966, S. 14.