Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Silja Walter


Juni 2019

Silja Walter
Gebet des Klosters am Rand der Stadt

Jemand muss zuhause sein,
Herr,
wenn Du kommst.
Jemand muss Dich erwarten,
unten am Fluss
vor der Stadt.

Jemand muss nach Dir
Ausschau halten,
Tag und Nacht.
Wer weiß denn,
wann Du kommst?

Herr,
jemand muss Dich
kommen sehen
durch die Gitter seines Hauses,
durch die Gitter Deiner Worte,
Deiner Werke,
durch die Gitter der Geschichte,
durch die Gitter des Geschehens
immer jetzt und heute
in der Welt.

Jemand muss wachen,
unten an der Brücke,
um Deine Ankunft zu melden,
Herr.
Du kommst ja doch in der Nacht,
wie ein Dieb.
Wachen ist unser Dienst,
Wachen.
Auch für die Welt.
Sie ist oft so leichtsinnig,
läuft draußen herum
und nachts ist sie auch nicht zuhause.
Denkt sie daran,
dass Du kommst?
Dass Du ihr Herr bist
und sicher kommst.

Jemand muss es glauben,
zuhause sein um Mitternacht,
um Dir das Tor zu öffnen
und Dich einzulassen,
wo Du immer kommst.
Wir bleiben, weil wir glauben.
Zu glauben und zu bleiben
sind wir da,
draußen, am Rand der Stadt.

Herr,
jemand muss Dich aushalten,
Dich ertragen,
ohne davon zu laufen.
Deine Abwesenheit aushalten,
ohne an Deinem Kommen zu zweifeln.
Dein Schweigen aushalten
und trotzdem singen.
Das muss immer jemand tun
mit allen anderen
und für sie.

Und jemand muss singen,
Herr,
wenn Du kommst!
Das ist unser Dienst:
Dich kommen sehen und singen.
Weil Du Gott bist.
Weil Du die großen Werke tust,
die keiner wirkt als Du.
Und weil Du herrlich bist
und wunderbar.

Komm, Herr!
Hinter unseren Mauern
unten am Fluss
wartet die Stadt
auf Dich.

Aus Ulrike Wolitz (Hg.):
„Ich habe den Himmel gegessen“. Silja Walter-Lesebuch.
Einsiedeln: Paulus, 2018, S. 90-93.

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