März 2022
Immer erwies sich der Ort als der angemessenste Schauplatz und Bezugsrahmen, um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen. Der Ort hatte ein Vetorecht gegen die von der Wissenschaft favorisierte Parzellierung und Segmentierung des Gegenstandes. Der Ort hielt den Zusammenhang aufrecht und verlangte geradezu die gedankliche Reproduktion des Nebeneinander, der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Der Bezug auf den Ort enthielt insgeheim immer ein Plädoyer für eine histoire totale – wenigstens als Idee, als Zielvorstellung, … 10
Landschaft ist das Integral, die Totale, das Zugleich. … Menschen definieren sich durch Landschaften, aus denen sie kommen, nicht weniger als durch den Staat, dessen Bürger sie sind. … Weil Landschaft der Name für ein Ganzes ist, ist die Geschichte der Landschaft und insbesondere der Kulturlandschaft zum Namen für die Bestrebung um Wiederzusammenführung gespaltener und verselbständigter Disziplinen geworden, zum Namen für die aufgegebene Vorstellung davon, dass sich Geschichte als ganze, als histoire totale erzählen lassen müsse. 284
Geschichtliche Arbeit mit Orten heißt: Vergegenwärtigung von Vergangenheit in räumlichen Koordinaten. 302
Ortswissen ist Kontinuitätswissen. In einer Gesellschaft, die nur nach vorne blicken soll und in der Entwurzelung Voraussetzung der Flucht nach vorn ist, ist die Tilgung der Spuren wesentlich für Herrschaft. Das Wissen um geschichtliche Orte ist gefährlich, besonders solange es frei zirkuliert. … Das Wissen um die Vergangenheit wird leicht zum lebenden Vorwurf an die neue herrschende Klasse. 350
Der Ort als Widerstand gegen die gewaltsamen Veränderungen und als letzte Instanz gegen die Löschung der Erinnerung. Der Ort als der letzte Halt in einer Zeit der Entwurzelung und der rasenden Beschleunigung, in der alle, wie vom Schwindel befallen, das Bewusstsein verloren zu haben scheinen. 351
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. München 2003.