Elmar L. Kuhn

Inspirationen


Allegorie der Geschichte: Die Muse Clio hindert Chronos, den Gott der Zeit, Seiten aus dem Buch der Geschichte herauszureissen. Stuckstatue von Dominikus Hermegild Herberger, 1744/45, im Bibliothekssaal des ehem. Klosters Wiblingen. Foto von Joseph Ege, Bad Schussenried.

Inspirationen

Walter Benjamin

Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch die sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unseren. … Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. 16f.

Der Chronist, welcher die Ereignisse erzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt der Wahrheit Rechnung, dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. 28

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügel verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. 19f.

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Hg. Gérard Raulet. Berlin 2010.

Anspruch auf „Eingedenken“ und „Rettung“ haben die großen wie die kleinsten Einheiten der Geschichte. Aufgabe des Historikers ist die „Rettung“ der ganzen Geschichte, der kleinen, wie der großen, der siegreichen wie der unterdrückten in all ihren Aspekten. Die Präsenz der ganzen Geschichte in ihren wechselseitigen Bezügen, in Kenntnis von Vor- und Nachgeschichte, ermöglicht Kritik und Erkenntnis.

Golo Mann

Freude an der deutschen Geschichte habe ich mit meinem Buch zu erwecken versucht durch die Vergegenwärtigung von Ereignissen, Szenen und Gestalten; selbst da noch, wo sie in ihrer Gegenwart so ganz erfreulich nicht waren. Ernst ist das Leben, heiter die Kunst, heißt es in Schillers am tiefsten geschichtlichen Drama. Je tiefer die Dinge in die Vergangenheit entschwinden, desto weniger irdisches Schwergewicht bleibt ihnen. Leid, das einmal erlitten wurde, ist nicht mehr; Schönes erscheint. Jede Begegnung mit vergangenem Leben ist schön. …

Das eben Gesagte gilt nicht immer und überall. … Bei einem Kapitel unseres Jahrhunderts wird das Interesse zur angewiderten Neugier, die sich des Gegenstandes und die sich ihrer selber schämt.

Das ist die Ausnahme, die Regel die, dass geschichtliche Vergangenheit Freude machen kann und Geschichtsschreibung nicht zu sein verdiente, ließe sie dieses Ziel außer Acht. Vergangenheit wacht auf, sie lebt, sobald man sich in sie vertieft. Nicht so, dass praktische Ratschläge aus ihr zu gewinnen wären. Aber so, dass wir in ihr den Menschen kennen lernen und dadurch auch uns selber; die Anlagen und Möglichkeiten unseres Volkes; sein Versagen wie seine Schöpfungen; die Herkunft der Gegenwart. Wie die Geschichte arbeitet und wie die einzelnen sich in ihr bewährt haben oder nicht; wie sie das Gute wollten und irren mussten, eingefangen wurden in Konflikten, die sie nicht lösen konnten. Und was sie recht machten.

Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1966, S. 14.

Karl Schlögel

Immer erwies sich der Ort als der angemessenste Schauplatz und Bezugsrahmen, um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen. Der Ort hatte ein Vetorecht gegen die von der Wissenschaft favorisierte Parzellierung und Segmentierung des Gegenstandes. Der Ort hielt den Zusammenhang aufrecht und verlangte geradezu die gedankliche Reproduktion des Nebeneinander, der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Der Bezug auf den Ort enthielt insgeheim immer ein Plädoyer für eine histoire totale – wenigstens als Idee, als Zielvorstellung, … 10

Landschaft ist das Integral, die Totale, das Zugleich. … Menschen definieren sich durch Landschaften, aus denen sie kommen, nicht weniger als durch den Staat, dessen Bürger sie sind. … Weil Landschaft der Name für ein Ganzes ist, ist die Geschichte der Landschaft und insbesondere der Kulturlandschaft zum Namen für die Bestrebung um Wiederzusammenführung gespaltener und verselbständigter Disziplinen geworden, zum Namen für die aufgegebene Vorstellung davon, dass sich Geschichte als ganze, als histoire totale erzählen lassen müsse. 284

Geschichtliche Arbeit mit Orten heißt: Vergegenwärtigung von Vergangenheit in räumlichen Koordinaten. 302

Ortswissen ist Kontinuitätswissen. In einer Gesellschaft, die nur nach vorne blicken soll und in der Entwurzelung Voraussetzung der Flucht nach vorn ist, ist die Tilgung der Spuren wesentlich für Herrschaft. Das Wissen um geschichtliche Orte ist gefährlich, besonders solange es frei zirkuliert. … Das Wissen um die Vergangenheit wird leicht zum lebenden Vorwurf an die neue herrschende Klasse. 350

Der Ort als Widerstand gegen die gewaltsamen Veränderungen und als letzte Instanz gegen die Löschung der Erinnerung. Der Ort als der letzte Halt in einer Zeit der Entwurzelung und der rasenden Beschleunigung, in der alle, wie vom Schwindel befallen, das Bewusstsein verloren zu haben scheinen. 351

Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. München 2003.

Hans-Ulrich Wehler

Herrschaft, Wirtschaft und Kultur stellen drei, in einem prinzipiellen Sinn jede Gesellschaft erstformierenden, sich gleichwohl wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen dar. Die menschliche Welt wird … durch „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ (Habermas) begründet.

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. 2. Auflage. München 1989, S. 7.

Georges Duby

Ich war allein. Ich hatte endlich erreicht, daß ein Karton auf den Tisch gestellt wurde. Ich machte ihn auf. Was mochte er enthalten? Ich zog ein erstes Bündel heraus, schnürte es auf, ließ meine Hand zwischen die Pergamentblätter gleiten, nahm eines und entfaltete es. Das alles schon nicht ohne einigen Genuß: oft sind die Häute so zart, daß ihre bloße Berührung ein köstliches Gefühl vermittelt. Hinzu kommt der Eindruck, an einen exklusiven, geheimen Ort zu gelangen. In der Stille scheinen diese glattgestrichenen, ausgebreiteten Blätter den Geruch längst erloschenen Lebens zu verströmen. Man spürt tatsächlich die unmittelbare Gegenwart des Menschen, der vor achthundert Jahren zu einer Gänsefeder griff, sie in Tinte tauchte und sich bedächtig daran machte, Buchstaben aneinanderzureihen, wie gemeißelt, eine Inschrift für die Ewigkeit – und der Text liegt da, vor einem, unverändert. Wer mag seither einen Blick auf diese Wörter geworfen haben? Vier oder fünf Personen höchstens. Happy few. Ein weiteres, erregendes Vergnügen liegt in der Entzifferung, die im Grunde nur ein Geduldspiel ist. Am Ende eines langen Nachmittags besteht die Ausbeute in einer Handvoll Angaben, kaum nennenswert. Aber sie gehören dem allein, der es verstanden hat, sie aufzustöbern, und für ihn war die Jagd viel wichtiger als das Wild. Ist der Historiker der konkreten Realität, der Wahrheit, die er brennend zu erreichen sucht und die sich ihm stets entzieht, je näher, als wenn er diese aus der Tiefe der Zeit stammenden, wie herrenloses Gut nach einem vollständigen Schiffbruch an der Oberfläche treibenden Schriftreste, diese mit Zeichen bedeckten Objekte, die er berühren, riechen, mit der Lupe betrachten kann und die er in seinem Jargon „Quellen“ nennt, vor sich hat und mit eigenen Augen erforscht? S. 27f.

Was ich mir von meinen Streifzügen durch Feld und Wälder erhoffte, war ein fester, konkreter Zugriff auf das Reale, um mich zu vergewissern. Ich hatte das starke Bedürfnis, dieses fadenscheinige, durchlöcherte Gewebe, das ich Stück für Stück zu flicken versuchte, indem ich lateinische Wörter las, auf einen festen Untergrund zu heften, auf ein anderes Zeugnis, die Landschaft, die ebenso reich, in ihrem Reichtum aber ganz verschieden und ohne irgendeine Lücke lebendig im vollen Tageslicht zu sehen war – ähnlich wie wenn man die Fragmente einer verwitterten Freske, ehe sie zu Staub zerfallen, auf Leinwand befestigt. S. 41

Ich erlebte eine seltsame Verwandlung, eine Art Alchimie, die darin bestand, daß sich durch den Vergleich, die Vermischung, die Verschachtelung zahlloser Fragmente des Wissens, das ich aus den durchstöberten Büchern und Aktenbündeln bezogen hatte, ein Bild abzeichnete, das immer präziser wurde, das nach und nach Farbe und Gestalt annahm – das überzeugende Bild eines komplexen, sich entwickelnden, lebendigen Organismus: das Bild einer Gesellschaft. S. 57

Georges Duby: Eine andere Geschichte. Stuttgart 1992.

Ich hatte ein Territorium eingekreist: einen Raum, zur Hälfte ausgeleuchtet von dem, was von den Archiven … heute noch übrig ist. Was diese zerstreuten Quellen sehr unvollständig dem Blick darboten, war nichts anderes als eine Landschaft, diesmal eine gesellschaftliche. Trotzdem wollte ich sie auf die sichtbare Landschaft projizieren, auf das was ich auf diesem Boden so gut kannte und liebte, um in der Komplexität ihres Erscheinungsbildes und ihres Zusammenhalts den Ursprung und die Entwicklung der Beziehungen zu erkennen, die einst in jenen Dörfern, auf jenen Feldern, in jenen Weinbergen und Wäldern, die ich in alle Richtungen durchstreift hatte, Bauern und Krieger miteinander unterhalten hatten. Naturgemäß geben die Urkunden wenig Aufschluß über die ökonomischen Verhältnisse, viel über die Machtbereiche, über die Art, wie diese aufeinanderprallten, sich einander anpaßten, sich verschränkten. Die Studie zeigt folglich die in einem Mosaik von Ackerflächen verwurzelte Anordnung der verschiedenen Formen der Macht.

Georges Duby: Das Vergnügen des Historikers. In: Pierre Chaunu u.a.: Leben mit der Geschichte. Frankfurt 1989, S. 86f.

Giovannino Guareschi

Don Camillo fing an, Brot und Wurst zu essen. Dann entkorkte Peppone die Lambruscoflasche, und der Kranke trank den Wein. Er aß und trank langsam, nicht aus Genußsucht, sondern um besser den Geschmack seiner Heimaterde zu spüren. Jeder Bissen und jeder Schluck brachte eine Welle voll stechender Sehnsucht an ihn heran: seine Felder, seine Weinreben, seinen Fluß, seinen Nebel, seinen Himmel.

Giovannino Guareschi: Ciao, Don Camillo. Frankfurt-Berlin: Ullstein, 1991, S. 155.

Elmar L. Kuhn

Vom Interesse an einem Geschichtsverlauf aus, der das „Glück der großen Zahl“ verbürgt, das nur durch diese selbst definiert und hergestellt werden kann, muss sich das Interesse an Geschichte primär auf die Bruchstellen im „Kontinuum der Unterdrückung“ richten. Diese Bruchstellen bezeichnen jene Phasen, in denen die objektive Systemkrise subjektiv ins Bewusstsein rückt und Praxis als bewusste ermöglicht.

1977

Ich suche die Geschichte im kühlen Hausgang auf den abgetretenen Fliesen in der Kirchstr., vielleicht im sog. Kinderzimmer, im Schrank, wo die OAB lag mit den Notizen des Großonkels Karl, vielleicht im Klang der Operetten-Schallplatten dort, oder im Schlafzimmer des Großvaters mit den Autolichtern an der Decke … Aber die Erinnerungen ergeben keine Geschichte. Ich muss sie konstruieren: … Was suche ich, was ist mein Ziel, wo ist das Leben? Abstreunen, vorbeistationieren, die Verteidigung der Oase in der Wüste, hoffnungslos gegen den Sand. …

Der Weg der Geschichte eines kleinen Ausschnittes der Welt, meiner Welt und mein Weg zu dieser Geschichte, die Hoffnung, den Weg zu finden, zu entdecken, zu erzählen. Den Weg des Seins von See und Alpen, der langen Dauer der Bauern, der langen Wellen der Hügel und des Anbaus, der langen Wellen der Herrschaft und des Glaubens, der Gischt der Ereignisse und des langsamen Selbstmordes einerLandschaft. …

2006

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