Juli 2017
Christoph Martin Wieland:
Die Philosophie der Grazien
Auch lernt er gern, und schnell, und sonder Müh,
Die reizende Philosophie,
Die, was Natur und Schicksal uns gewährt,
Vergnügt genießt, und gern den Rest entbehrt;
Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite
Betrachtet; dem Geschick sich unterwürfig macht,
Nicht wissen will, was alles das bedeute,
Was Zeus aus Huld in räthselhafter Nacht
Vor uns verbarg, und auf die guten Leute
Der Unterwelt, so sehr sie Thoren sind,
Nie böse wird, nur lächerlich sie findt
Und sich dazu, sie drum nicht minder liebet,
Den Irrenden bedaurt, und nur den Gleißner flieht;
Nicht stets von Tugend spricht, noch, von ihr sprechend, glüht,
Doch ohne Sold und aus Geschmack sie übet;
Und glücklich oder nicht, die Welt
Für kein Elysium, für keine Hölle hält,
Nie so verderbt, als der Sittenrichter
Von seinem Thron – im sechsten Stockwerk sieht,
So lustig nie als jugendliche Dichter
Sie malen, wenn ihr Hirn von Wein und Phyllis glüht.
So war, so dacht und lebte Phanias,
Und weil er war – wonach wir andern streben,
So that er wohl, zu seyn, zu denken und zu leben,
So wie er that.
Christoph Martin Wieland: Musarion oder Die Philosophie der Grazien.
Hg. Alfred Anger. Stuttgart: Reclam, 2001 (RUB 95), S. 61.