Januar 2016
Hans-Ulrich Wehler:
Die Selbstzerstörung der EU durch den Beitritt der Türkei.
… Alle Gründe sind, vom Standpunkt europäischer Interessen geurteilt, ganz unzulänglich, wenn es um die gravierende Grundsatzentscheidung des EU-Beitritts geht, …
1.
Das erste Problem liegt darin, dass es die EU bisher nicht riskiert hat, ihre Grenzen im Osten, im Südosten und Süden zu definieren. … im Süden müsste klargestellt werden, dass weder die maghrebinischen Staaten noch der Nahe Osten und Israel zu Europa gehören. … Die Ukraine, Weißrußland und Russland selbst … sind kein Teil Europas und gehören deshalb nicht in die EU. … Was spricht eigentlich für den politischen Masochismus, einen kleinasiatischen Großstaat mit 90 Millionen Muslims … als künftig größtes Mitglied in die EU aufzunehmen?
2.
Das muslimische Osmanenreich hat rd. 450 Jahre lang gegen das christliche Europa nahezu unablässig Krieg geführt; … Das ist deshalb weiterhin erwähnenswert, weil man an dem türkisch besetzten Balkan, der südlich der habsburgischen Militärgrenze eine zweihundertjährige Stagnation seiner wirtschaftlichen, sozialen, politischen Entwicklung unter osmanischer Herrschaft erlebt hat, ziemlich genau ablesen kann, was ein türkischer Sieg für weitere Teile Europas gedeutet hätte. …
3.
Warum sollte heutzutage ein muslimischer, von der fundamentalistischen Welle einer erkennbaren Mehrheit bedrohter Staat zu Europa hinzustoßen? Was spricht eigentlich dafür, dass nach dem Beitritt die Fundamentalismusprobleme ungehindert in die EU exportiert werden können? In der Bundesrepublik werfen 32 000 in radikalen Organisationen vereinigte türkische Muslims bereits hinreichend Probleme auf. …
4.
Warum sollte, da nach europäischen Kriterien mindestens 30 % des türkischen Arbeitskräftepotentials als arbeitslos … einem anatolischen Millionenheer die Freizügigkeit in die EU eröffnet werden? … Überall in Europa erweisen sich aber muslimische Minderheiten als nicht assimilierbar, sie igeln sich in ihrer Subkultur ein. …
5.
Die ökonomischen Probleme der Türkei sollten die EU nur abschrecken, … Warum bloß sollte die EU eine Wirtschaft, die sich bisher als Fass ohne Boden mit riesigem Subventionsbedarf in Milliardenhöhe erwiesen hat, kooptieren? …
6.
Warum nur sollte sich die EU im Südosten so famose Nachbarn wie den Irak … und das Syrien von Assad jun., die islamistische Theokratie des Irans und erodierende Staaten wie Georgien und Armenien zulegen und überdies das explosive Kurdenproblem freiwillig schultern? …
7.
… Die Osterweiterung um die zehn neuen Mitglieder wird fraglos alle Ressourcen der EU bis zur Zerreißprobe beanspruchen. … Wie aber kann man … politisch so von Sinnen sein, dass man sich die völlige Überdehnung aller restlichen Machtressourcen auflädt …?
8.
Das häufig beklagte, jetzt erneut bestürzende Demokratiedefizit, das die Beitrittsgeschichte der Türkei kennzeichnet, wirft ein grelles Licht auf die Missachtung des Souveräns und seiner gewählten Vertreter in den Parlamenten. …
9.
… Der ungenierte amerikanische Druck, die Türkei als NATO-Partner und Alliierten künftiger Nahostkonflikte in die EU aufzunehmen, läuft auf eine unverblümte Externalisierung aller Kosten hinaus, die Europa rücksichtslos aufgebürdet werden, …
10.
Die unmäßige, unverantwortliche Erweiterung der EU um die Türkei bedroht Europa mit dem Ende aller Hoffnungen auf seine bundesstaatliche politische Einheit. …
Der politische Masochismus, sich ohne Not gleichzeitig in mehrere Klingen zu stürzen und vitale Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten rigoros zu missachten, sucht in der neueren Geschichte seinesgleichen. …
In: Hans-Ulrich Wehler: Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays. München: Beck, 2003, S. 41-52.