November 2018
Ein Wort zur Verkehrspolitik. Sie alle kennen das Bild auf unseren Autobahnen bei Nacht: ein Pandämonium der Tiefsee voll irrlichternder Blitzfische, die sich nach dem Leben zu trachten scheinen; eine fortgesetzte totale Mobilmachung gegen die Humanität, wie wenn Nachschubkolonnen fliehender Divisionen den Standort wechseln, vollbepackt mit materiellem Kram; überschwere Tonner auf der Flucht von Geschäft zu Geschäft, deren Manager jahrelang durch Erpressung eine totale Behinderung der Entscheidungsfreiheit der Politik erzwungen haben. Motorradfahrer – maskiert wie Meldegänger Mephistos – bringen sich selbst in schrecklichen Todesziffern ums Leben: Fünftausend junge Menschen in Deutschland zwischen 18 und 24 Jahren opfern sich pro Jahr dem Verkehrsgötzen, also mehr, als in diesen Altersgruppen an natürlichen Krankheiten zu sterben pflegen. Mit vierzig „Verkehrstoten“ pro Tag bezahlen wir unser Vorbeidrücken an der Erkenntnis, daß in den Dingen selbst eine Rangordnung der Werte und eine natürliche Grenze liegt. Wir dulden einen schamlosen Raubbau am Menschen, vor allem an den Fernlastfahrern selbst, die auf kaum steuerbaren Ungetümen Tag und Nacht durchfahren müssen. Wir dulden den Raubbau an Gesundheit und Familienleben, den Raubbau an den Häusern (ein noch gar nicht erkanntes Lastenausgleichsproblem ist die Abwertung aller an den Lärmstraßen liegenden Häuser und Hotels!), den Raubbau an den überlasteten Straßen und den Raubbau an den Nerven der Menschen. Wir täuschen uns darüber hinweg, daß an jedem das Fließband verlassenden Auto ein ungebauter Teil eines Straßenkilometers hängt, zu schweigen von den hohen Kosten der ständigen Reparaturen an den Straßen. Mit Milchmädchenrechnungen über „Verkehrsdichte pro Kopf und Quadratkilometer“ geht man darüber hinweg, daß die Progression sich doch von selber aufhebt, weil der Neuzugang von einer halben Million Motorfahrzeuge pro Jahr sich nicht über den Quadratkilometern flächenmäßig verteilt, sondern in die bereits verstopften Hauptkrampfadern des Verkehrs in den industriellen Ballungsräumen hineindrückt. Hier wird die in den Dingen selbst liegende Begrenzung ständig verletzt. Dreißig Millionen Autos sind entweder die Selbstüberwindung des Verkehrs oder eine apokalyptische Perspektive, die uns zwingt, mit den Häusern wie in der Höhlenzeit unter die Erde zu gehen.
Das Schlimmste daran ist, daß der schnell geraffte Gewinn einer kleinen Gruppe von denen gezahlt werden muß, die bei dieser gigantischen Offensive gegen Nachtruhe und Nerven sowieso schon die Schädigung ihrer Gesundheit dranzugeben haben. Daß es auch, ohne zu verarmen, anders geht, zeigt das Beispiel der Schweiz, die ab elf Uhr nachts um der Ruhe der Menschen und der Tiere willen das Fahren durch die Ortschaften verbietet. Überdies hat die Erfahrung des letzten Winters bewiesen, daß die angeblich veraltete Eisenbahn das einzig sichere Verkehrsmittel ist, wenn Kanäle und Straßen gefrieren oder zuschneien. Man sollte sich daher endlich auch in Deutschland dazu entschließen, eine Verteilung der Massengüter auf die vorhandenen Verkehrsadern der Eisenbahn und der Kanäle zu dekretieren, etwa wie in Frankreich, wo man sich bis heute davor gehütet hat, ein zehnmal besseres Straßennetz durch den Transport von Ziegelsteinen von Marseille bis Nach Le Havre auf gigantischen Amphibientanks ruinieren zu lassen, während hierzulande der Mehrgewinn einer kleinen Gruppe auf alle abgewälzt wird, indem alle neben der ständigen Verteuerung des Straßenverkehrswesens auch noch das Steuerdefizit einer nicht ausgelasteten Eisenbahn zu tragen haben. In diesem Sektor liegt eines der deutlichsten Atteste dafür vor, daß unsere vielgerühmten Manager des Wirtschaftswunders weithin die Fähigkeit, den richtigen Wert der Dinge und ihre Rentabilität auf lange Sicht zu erkennen, verloren haben, obwohl vierzig Tote pro Tag sie über ihren gigantischen Irrtum belehren könnten, wenn ihre Ohren nicht verstopft und ihre Augen nicht von ungeduldiger Erwerbsgier getrübt wären.
Paul Wilhelm Wenger: Aufgaben und Möglichkeiten einer konservativen Politik. In: Konservative Haltung in der politischen Existenz. Vorträge und Gespräche der 5. Jahrestagung der Abendländischen Akademie in Eichstätt. München: Neues Abendland 1956, S. 50-70, hier S. 64f.