Dezember 2020
Kompensationen sind der Ausgleich von Mängellagen durch ersetzende oder wiederersetzende Leistungen …
Die Kompensationstheorie wurde kritisiert, denn die Kompensationstheorie war nicht edel – nicht absolut – genug. Diese Theorie verstößt gegen das Affirmationsverbot und verletzt die Pflicht zur absoluten erlösenden Maßnahme. Kompensationen sind bloße Schönfärbereien. Es gibt aber durchaus auch unangenehme Kompensationen:
a) Der Satz der Erhaltung der Konfusion, … der Erhaltung der Konfusion unter Verwendung ihrer Beseitigung als Mittel.
b) Der Satz der Erhaltung des moralischen Empörungsaufwandes. Verminderte Empörung hier wird ersetzt durch vermehrte Empörung dort. Je mehr Gewissen man „ist“, desto weniger Gewissen braucht man zu „haben“. Man erspart sich das Tribunal, indem man es wird. Darum gibt es die Kumpanei zwischen Libertinage und Rigorismus. In permissiven Gesellschaften wird die Permission durch stellvertretende Rigorismen (bis hin zur rigoristischen Verteidigung der Permission) kompensiert: indem man – beispielsweise – zwar die Rechte der Schwachen (etwa die von Randgruppen und Tieren) stark macht, aber zugleich (etwa im Namen der Selbstverwirklichung) die Rechte der Schwächsten – z. B. menschlicher Embryos – überhaupt nicht mehr wahrnimmt und nicht einmal für diskussionsbedürftig hält. Das Quantum an moralischer Empörung bleibt konstant: je mehr man sie an einer Stelle steigert, desto mehr nimmt sie an anderer Stelle ab. Es gibt einen Entmoralisierungseffekt der Hypermoralisierung und umgekehrt einen Rigorismuseffekt der Libertinage.
c) Der Satz von der Erhaltung der Naivität. …
d) Der Satz der Erhaltung des Negativitätsbedarfs. …
Die Kompensationstheorie ist statt einer absoluten Philosophie „nur“ eine Philosophie des Stattdessen. Das ist gerade ihr Vorzug, denn sie vermeidet Absolutheitsillusionen, indem sie die menschliche Endlichkeit respektiert.
Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Ditzingen: Reclam, 2020, S. 267-269, 278.