Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Das Ende des Westens


November 2015

Joachim Buchsteiner: Wer zu früh kommt.

Angela Merkels Flüchtlingspolitik nimmt das Ende des Westens vorweg.

„Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen.“ In diesem lapidar klingenden Satz der Bundeskanzlerin stecken eine verblüffende Kapitulation und zugleich ein kühner Aufbruch. Er enthält den Verzicht auf die wichtigsten Gestaltungsmittel der Politik – die Kontrolle über das Staatsgebiet und das Staatsvolk. In seiner Totalität bedeutet er, dass das Deutschland, das wir kennen, vergehen wird. …

Die Frau, die immer auf Sicht gefahren ist, scheint plötzlich den ganz weiten Horizont in den Blick zu nehmen. Ihrer Wende in der Flüchtlings- und Migrationspolitik liegt ein Geschichtsdeterminismus zugrunde, der von einem unaufhaltsamen Epochenwandel ausgeht und diesen beschleunigt, wenn nicht vorwegnimmt. Jahrzehntelang wurde die „Festung Europa“ gehalten – in der stillen Übereinkunft, dass eine Lockerung des Grenzregimes unser Gemeinwesen bis zur Unkenntlichkeit verändern würde. …

Die Parallele, die einige zum Untergang des weströmischen Reiches ziehen, ist nicht ohne Witz. Ob es die Völkerwanderung war, die das Reich beendete, oder das ermüdete Reich, das die Völkerwanderung möglich machte, bleibt eine offene Frage. Jedenfalls begann auch sie langsam und auf Bitten der nach Hilfskräften suchenden Römer, wurde dann ungeordneter und aggressiver, bis sie die alte Ordnung unter sich begrub. …

Es wird so getan, als gehe nur alles oder nichts, so wie 1945 und 1946, als Millionen Deutsche aus den Ostgebieten flohen und vertrieben wurden. Aber ihre Aufnahme war, um mit Merkel zu sprechen, „alternativlos“. Es waren Landsleute, und sie wären anderswo nicht aufgenommen worden. Für syrische Kriegsflüchtlinge und pakistanische Wirtschaftsmigranten gilt das nicht.

Länder wie Großbritannien oder Dänemark kommen daher ihrer Verantwortung nach, indem sie einen kleinen Teil der Flüchtlinge ins Land lassen. … Sie stellen auch die Frage, warum reiche islamische Länder wie Saudi-Arabien ihre Grenzen für die Glaubensbrüder und –schwestern schließen.

Wo andere Europäer Augenmaß walten lassen, geben sich Deutsche einem Gefühl hin, das aus zwei sonderbaren Quellen gespeist wird. In der einen sprudelt ein Idealismus, der sich an der Phantasie berauscht, wir könnten etwas schaffen, für das andere zu kleinmütig sind: britische Kritiker sprechen von „Tugendprotzerei“. Die andere Quelle ist eine schicksalsgläubige Geschichtsauffassung. … Die pessimistische Schule folgt der dunklen Logik, dass alle Hochformen der Kultur irgendwann ermüden und ab einem bestimmten Punkt geradezu wollüstig dem Niedergang entgegenstreben. …

Räumt Merkel am Ende nur den Stein aus dem Weg, der zwischen unserer kraftlosen, verspielten Gegenwart und einer robusteren Zukunft liegt? Womöglich ist Merkel ihrer Zeit voraus und sieht die globalen Verschiebungen realistischer als ihre Kollegen im Westen. Das ändert aber nichts daran, dass diese es vorziehen, sich noch ein Weilchen zu behaupten und nicht in Jahrhunderten, sondern weiter in Jahren und Jahrzehnten zu denken. …

Wenn es historischer Weitblick ist, der die Kanzlerin antreibt, überfordert er nicht nur Europa. Auch die Deutschen sind letztlich nicht willens, die Konsequenzen einer Politik zu tragen, die sich aufgibt, bevor sie sich aufgeben muss. … Dass Merkel aus der Mitte der Gesellschaft nur zaghaft kritisiert wird, hat mit der Angst zu tun, sich in der „rechten Ecke“ wiederzufinden. …

Ohne es zu beabsichtigen, bricht Merkels Flüchtlingspolitik mit einer Überzeugung, vielleicht einer Fiktion, die anderswo aufrechterhalten wird: dass der Westen trotz seines politischen, ökonomischen und moralischen Machtverlusts die dominante Kraft geblieben ist. Merkels Überzeugung, die Entwicklungen nicht mehr aufhalten, nur noch „steuern“ zu können, bezieht sich ja nicht nur auf die Migrantenströme, sondern auch auf die globalen Konflikte. …

Die Kanzlerin hat eine epochale Kurswende eingeleitet, ohne sie zu erklären, wahrscheinlich, ohne sie zu überschauen. Ihr Alleingang setzt eine Kettenreaktion frei, an deren Ende der „Zerfall“ der EU stehen kann. Die als „Migrationschaos“ wahrgenommene Situation befeuert allerorten den Populismus, der Europa noch unregierbarer machen wird. … Der türkische Autokrat Erdogan darf jetzt auf Hilfen hoffen, die man nicht gewähren wollte, als es um die Demokratie am Bosporus noch besser bestellt war. …

Es gibt in Europa keine Mehrheit für die Idee offener Grenzen. Die meisten Nationen wollen am Prinzip der Souveränität festhalten – in Fragen der kulturellen Identität die einen, in Fragen der Grenzsicherung die anderen. Das Dringen auf europäische „Solidarität“ wird von den Angesprochenen als unsolidarisch empfunden. Merkel hat einen törichten Lockruf in die Welt gesendet und zwingt nun die Partner, ihren Fehler auszubaden.

Die Frau, die Politik immer vom Ende her dachte, hat sich dramatisch verkalkuliert. Ihr Rendezvous mit der Weltgeschichte ist ein zeitliches Missverständnis. Es destabilisiert und polarisiert Deutschland im Inneren und isoliert es in seinen Beziehungen nach außen. …

Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland 31. Oktober 2015, Nr. 253, S. 10

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