Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Christoph Martin Wieland


April 2015

Christoph Martin Wieland: Biberach.

In Zeit und Raum verallgemeinerbare Aussagen

… meine zerrüttete und verdorbne Vaterstadt, 1760, S. 1

… die Beraubung aller meiner Freunde, der Verlust der Ruhe und heitern Stille einer wohlangewandten Einsamkeit, die Verbannung zu Barbaren und eben so boßhaften als kleinen Seelen, Geschäfte, die den Geist und das Hertz entweder in einer trägen sumpfichten Ruhe lassen, oder das letztere in stürmische Bewegungen setzen, und den ersten zusammenschrumpfen machen, und eine Lebensart mit einem Wort, die meiner Denkungsart, meinen Neigungen und meinen Gewohnheiten in allem entgegen ist, meinen Geist auslöschen, meine Seele betäuben, und die bessere Helfte von mir selbst vernichten. 1760, S. 15

Der beständige Anblik unsrer Zerrüttung, unsrer schlimmen Oeconomie, unsrer verfallnen Policey, der gäntzlichen Unachtsamkeit womit man den Verfall der Stadt ansieht, des Unverstands unsrer Regenten, der Zügellosigkeit des Volks, der Verachtung der Gesetze, der willkührlichen Art zu gouverniren, der Chicanen wodurch die einfältigsten Sachen verwirret, und alle Bemühungen der wenigen Gutgesinnten vereitelt werden, - dieser beständige Blick in einen Abgrund von moralischen und politischem Verderben auf der einen Seite, und auf der anderen, der gäntzliche Mangel an Freunden, die Beraubung eines angenehmen Umgangs, der Ruhe und Stille des Gemüths, der Freyheit, des Umgangs mit den Musen, der stillen Betrachtungen der Natur, der einzigen Quelle des Wahren, Schönen und Guten, der Mangel an den Freuden des Geistes und Herzens, an die ich soviele Jahre gewöhnt gewesen, eine allen meinen Neigungen und Gewohnheiten entgegen gesezte Lebensart, die Nothwendigkeit, mein bessres Selbst zu verbergen, das Mißvergnügen mit lauter Leuten zu leben, die mich nicht kennen, nicht verstehen, nicht lieben. 1760, S. 28

… das Elend einer allzu kleinen Aristocratisch-Democratischen Republik zu geben, welches nach meiner Idee die aller unglükseligste Constitution ist, die ein Staat haben kann. 1761, S. 35f.

… ich mein Exilium in diese meine Vaterstadt nicht viel beßer ertrage als Ovidius seine Verbannung nach Tomos. … Die Wissenschaften, die den Menschen aufklären, bilden, erheben und verschönern, die liebenswürdigen Künste der Musen, die Geselligkeit, das Anständige in den Sitten und eine angenehme Lebensart sind hier so unbekant als in der Crimmischen Tartarey. 1761, S. 48

… dieses unselige Biberach wird in die Länge meinen Kopf, mein Hertz, meine Gesundheit und mein Leben zu Grund richten. … eine beständige Irritation von hassenswürdigen und monströsen Gespenstern … / Man weiß hier nichts von allem, … was andrer Orten die Neugierde reizt; unendliche kleine Händel und Intriguen occupiren alle unsre Aufmerksamkeit und wir verachten alles ausser uns, was keinen unmittelbaren Einfluß in unsern Seckel hat. 1762, S. 60, 62

… in diesem immer verwirrten, verkehrten und heillosen Statu von Biberach, in diesem barbarischen und ungesitteten Ort, wo man von nichts als Händeln, Differenzen und Processen hört, wo in Foro et Curia nichts als Eigennuz, Privat-Absichten und niederträchtige Cabalen herrschen und wo eine elende Rabulisterey die eintzige Wissenschaft ist, die etwas gilt, 1762, S. 76

… dieses Reichstädtische Geschmeiß … An einem solchen Ort, unter solchen Menschen, bey solchen Geschäften, Händeln, Processen und Verfolgungen, müßte der Genie eines Engels endlich unterliegen. 1762, S. 78

Biberach ist … schlechterdings der Ort nicht, wo ich bleiben kann, und je bälder ich aus diesem Anti-Parnaß erlößt werde, je besser wär es für mich. … Hier gehen meine Talente für das Publicum verlohren. Unter solchen Zerstreuungen, unter solchen Leuten, bey einem solchen Amte, ohne Bibliothek, ohne Aufmunterung, was kann ich da thun? … wenn der Himmel nicht für gut befindet, mich in den nächsten drey oder vier Jahren mit Ehren aus Biberach wegzubringen, so werde ich die Musen und die Philosophie verschwören, ein Biberacher werden und alle meine Tage unter das Rathhaus und ein Weinhaus, nach Gewohnheit meiner lieben Herren Collegen austheilen. 1763, S. 152f.

… diesem Mischmasch größerer und kleinerer, an Verfassung, Religion, Sitten und Lebensart so sehr verschiedener, und meistens noch unter dem Joch der Barbarei darniedergedrückter Völker und Völkchen, welche zusammen die deutsche Nation ausmachen, 1764, S. 283

… ich sollte eine hübsche, gescheidte, muntre und wo möglich eine reiche Frau haben, und die drey oder vier Jungfrauen, welche hier stands halber, ein Recht an mich haben könnten, sind entweder schön und dumm, oder dumm und häßlich dazu. S. 285

Einsam in einem Hause, dessen weite Gemächer von Niemand bewohnt sind, als von mir selbst, einem dummen Thier von Magd, etlichen alten magern Ratzen, und einem Gespenst, das, der uralten Observanz gemäß, alle Nacht um zwölf Uhr unsichtbar auf einer geheimen Treppe vom Rathause in die Canzley herabsteigt und sich eine Stunde lang amüsirt, die alten Protocolle zu durchblättern – einsam, ohne Freunde, (denn die einzigen, die ich in diesem barbarischen Lande habe, sind doch eine Stunde weit von mir entfernt), ohne Ergötzungen, ohne ein Mädchen, das mir durch eine Arie von Galuppi die Grillen wegsingen, oder durch Küsse, die sie von mir selbst zu geben gelernt, mir wenigstens einen täuschenden Schatten jener zaubrischen Wonne der Jugend wiedergeben könnte - … bald wird die ansteckende Dummheit einer Raths-Stube den wenigen wäßrichten Geist noch vollends auftrocknen, den ihm ein fünfjähriger Auffenthalt unter den unwissendsten, abgeschmaktesten, schwehrmüthigsten und hartleibigsten unter allen Schwaben noch übrig gelassen haben mag. 1765, S. 338

… ich unter 24 travestirten Hottentotten leben muß, die mir noch Ehre anzuthun glauben, wenn sie mich für ihres gleichen halten. Wenn Sie erst wißten, in welchem Grad dieses elende Todtenaß eines an der Sonne modernden stinckenden Reichstädtchen verabscheunswerth ist! 1765, S. 346

… in Biberach, ohne Freunde, ohne Bibliotheken, ohne Aufmunterungen, 1766, S. 397

… die Gesellschaft, in der ich hier zuweilen l’Hombre spielen muß, taugt ohngefähr so gut zu meiner Gesellschaft, als die Thiere im Paradiese für den Miltonischen Adam. … Ich sehe wenig Gesellschaft, und lasse mich das kleine, zerrüttete, unverbesserliche Gemeinwesen von Biberach eben so wenig anfechten, als das von Santo Marino. 1766, S. 407

Ich lebe hier wie am äussersten Ende des Caspischen Meeres – in gänzlicher Unwissenheit alles dessen, was in der politen Welt sich begiebt, 1767, S. 456

… ich Hoffnung hätte, meiner armen, von etlichen unruhigen Köpfen unleidentlich mißhandelten Vaterstadt nüzlich zu sein – und dieses zu hoffen, habe ich keine Ursache. 1767, S. 459

Ich wurde es also nach und nach gewohnt, in einer Art von Abgeschiedenheit von den Lebenden, an einem Ort, wo der bloße Namen der Musen und Grazien unbekannt ist, … mein Leben hinzuschleppen. 1768, S. 491

Zu eben der Zeit also, da Sie mir sagen, daß Sie gerne mein Porträt hätten, sage ich Ihnen, daß Ihnen eines zu Diensten steht. Aber seitdem ich weiß, daß Sie das meinige zwischen ein paar artige Mädchen stellen wollen, bin ich sehr versucht, Ihnen nichts zu schicken. Denn ich sage Ihnen im voraus, daß ich ganz und gar nicht schön bin, … Einem Kanzleidirektor sehe ich nun eben in meinem Bilde nicht sehr gleich; aber doch habe ich, leider! eine Perücke auf, und gucke mit einer ziemlich verdächtigen Miene in die Welt hinaus.[Siehe Abb. rechts] S. 545

Unsere kleine groteske Republik befindet sich zur Zeit in einer außerordentlichen Krisis. 1768, S. 555

… meine Vaterstadt ist für mich wie meiner Mutter Leib; wenn ich einmal draus bin, so komme ich nicht wieder hinein; 1769, S. 578

Ich kann nicht ohne eine schwäbische Köchin seyn, 1769, S. 595

Wielands Briefwechsel. Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. Juni 1760 – 20. Mai 1769). Hg. Renate Petermann und Hans Werner Seiffert. Berlin: Akademie, 1975 (Wielands Briefwechsel 3).

 

 

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