Januar 2014
Paul Nizon
Die Erstausgaben der Gefühle. Journal 1961-1972. Frankfurt: Suhrkamp, 2002
Ich glaube, am Reichtum der Ahnen, die in einem gegenwärtig sind, ermißt sich die Tiefe, der Reichtum, die Bedeutung. 140
So viele Menschenleben haben hier Patina und Ton und Laut und Geruch erzeugt und tun es immerfort. Ein Ewigkeitsgefühl? Ein Reichtumsgefühl? Lebens-Aussicht wird vermittelt. Der Stein der Stadt stellt ungezählte Wände voll neuer Möglichkeiten des Lebens um dich. 152
Ein schöpferischer Zeitgenosse ist durch seine Zeit aufgestört, weil er sie im wesentlich inakzeptabel findet. Aber seine Maßstäbe hat er von einem Herkommen … 172
Canto. (1963). Frankfurt: Suhrkamp, 1993 (Bibliothek Suhrkamp 1116)
Sammeleifrig trippeln sie auf Bibliotheken, trippeln dabei durch diese leuchtendwilde Stadttagessumme, pflücken mit Lüsteräuglein äußerste Blättchen vom gewaltigen Bau, für den Hausgebrauch niedlich und verdaulich gemachte Blättchen, und setzen sie anspruchsvoll als Argumente in Umlauf. 15
Versammelt sich vor Kirche, setzt Fuchsgesicht auf, schnuppert und nimmt Baugeschichte und Kultbedeutung, Geschichtsort und Kunstmaß schlicht gegenzeichnend zur Kenntnis. Brille, Täschchen, Regenmäntelchen und Kopftuch bunt und wimpelnd um ein Klosterpförtchen geschart: Aufmerksamkeit. Emsiges Inventar. 15f.
Wer sich unter dem Früchtebaum liegen weiß als Lebenszweck, unter dem Baum mit dem großen ganzen Ding, der vermag das Leben nicht in Tüten zu leben, nicht in Gittergehegen. 19
Untertauchen. Protokoll einer Reise. (1972) 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1977
Ganz plötzlich ist kein Glanz, keine Lockung mehr in den Dingen. Kein Geist, kein Lebensgeist mehr, in allem. … Fährt man immer zurück zu ursprünglichen Orten, wo etwas gluckst und schweigt und der eigene Pulsschlag begonnen hat? 54
Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973-1979. Hg. Wend Kässens. Frankfurt: Suhrkamp, 2004
… zu Hause der Tag, kaum begonnen, bereits vorüber ist. 53
… das kleine Glück, die kleine Freiheit, die kleine Résistance … 239
Es geht um das Handwerk des Schreibens und um das Handwerk des Lebens, es geht um Fremde und Heimat, es geht um Kälte und Liebe. 258
Stolz. Roman. Frankfurt-Zürich: Suhrkamp, 1975
Ihn fessle es, anhand von antiquarischen Restbeständen, von überdeckten Fundamten, freizuschaufelnden Gängen und Spuren, nicht nur das ehemalige Gebäude zu rekonstruieren, sondern darüber hinaus eine Vorstellung des ganzen dazugehörigen versunkenen Lebens, eingeschlossen die Stellung von Kirche und Staat, arm und reich, Macht und Ohnmacht, eingeschlossen die Rechts- und Besitzverhältnisse, die Sünden, Vergnügungen, aber auch die Gelehrsamkeit und Denkvorstellungen - … 43
… so viele Möglichkeiten des Aufspringens, Abspringens … 78
„Diese Arbeit also ist das Ziel – und wenn man sich auf diesen Gedanken konzentriert, dann vereinfacht sich alles Tun und Lassen, in der Weise, daß es nun kein Chaos mehr, daß vielmehr alles, was man tut, eben dasselbe Streben ist.“ (Vincent van Gogh) 122
Innenseite des Mantels. Journal [1980-1989]. Frankfurt: Suhrkamp,1995
Mit den Büchern ans Licht kriechen. 10
„Das Schreiben bringt, selbst bei günstigster Betrachtung ein einsames Leben mit sich.“ (Hemingway) 31
Und während ihrem Tun löschen sie ihr Leben aus, … 23
… nichts zu halten ist, das Leben ist kein Besitz. Leerausgehen in der Fülle. 56
… Hoffnungsflämmchen, etwas gefunden zu haben – die innere Karte, den Faden, den Marschbefehl gefunden oder zugespielt bekommen zu haben; … 64
Das Leben erschlafen, das Leben erträumen, das Leben erschreiben. 99
… meine Sache ist das Weiterschreiben. 165
… die Termine starren mich an wie Hochgebirge bei Föhn, … 169
Etwas festmachen, damit etwas stehe, auf dem ich stehen kann? 281
Ich bin … in einer Art unabstreifbaren Klosters mit den in mir wachsenden Büchern oder Sätzen, … 284
Das Jahr der Liebe. Roman. (1981). 5. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1995 (Bibliothek Suhrkamp 845)
Wer bin ich? Wohin gehöre ich? 171
Aber wo ist das Leben, … Wo war das Leben? 189
Das Leben ist zu verlieren oder zu gewinnen. Ich suche es. … dann meine ich, dass ich das Lebendigsein suche, das Erwecktwerden, die Erweckung, ja, die Erweckung! … Ich werfe mich ins Leben, wie ich mich ans Schreiben klammere, … werde ich schon wieder abgelenkt vom Schreiben; und vom Leben bin ich abgelenkt durch diese Sammlung zum Schreiben, … 198f.
Ein Buch muß duften wie eine Erinnerung. … Es hat sich dem Leser anverwandelt, es rührt ihn von innen an, streckt seine Fühler aus. 204
Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt: suhrkamp, 1985 (edition suhrkamp 1328).
Was ist die Suche, die mir schon so lange die Richtung aufzwingt? Welcher Sache laufe ich hinterher? Was ist mein Gebiet? Mein Fall? Was vertrete ich? 7
Martin Kilchmann (Hg.): Paul Nizon. Frankfurt: suhrkamp, 1985 (suhrkamp taschenbuch 2058)
… mit nichts als Worten eine merkwürdige Welt zu erschaffen, … 67
Die Geschichte konstruiert man hinterher – auch die eigene. 136
Die Zettel des Kuriers. Journal 1990-1999. Hg. Wend Kässens. Frankfurt: Suhrkamp, 2008
… der Künstler … winzige Lichtungen (Verdichtungen) kreiert, die dem Dunkel mit dem Blitz und der Wucht der Erleuchtung trotzen. In diesen Lichtungen wird Leben oder Dasein wirklich, weil erlebbar, anschaubar, sichtbar, riechbar – unmittelbar. … Was uns erreicht, ist der Pulsschlag des Kunstwerks, es erreicht uns mit Donner und Blitz, es macht uns sehend und – steckt uns mit Leben an. 84f.
Bin immer besetzt oder betrübt oder in mir gefangen. Muß warten. Immer in Wartestellung. 103
Es geht um den Funken, der das Funkeln erzeugt. 139
Im Bauch des Wals. Caprichos. (1989). Frankfurt: Suhrkamp, 1991 (suhrkamp taschenbuch 1900)
Ich zünde kleine Blitze, die mir als flüchtige Erhellung dienen – zum Weitergehen. 62
Heinz Ludwig Arnold: Paul Nizon. München: text + kritik, 1991 (Text + Kritik 11).
Wortwege. Landnahme. Raumschneisen. Es gehört die Liebe und das Wunder und der Glanz dazu, das Unerhörte und wohl auch Neue. So be-greifen. Der Schlüssel des Lebens. 5
Es ist der Versuch, stückweise Wirklichkeit zu zimmern, damit etwas stehe, auf dem er stehen kann. 85
Hund. Beichte am Mittag. Frankfurt: Suhrkamp, 1998
Das Leben schreibt keine Geschichten. Wir sind es, die das Geschehen in Geschichten ummünzen und uns darin einsperren und alle Türen verriegeln. Und das Leben ausschließen. 59
Das Leben bestehen heißt, den Alltag bestehen und von Zeit zu Zeit zum Leuchten bringen. 59
Bücher sollten im Kopf des Lesers explodieren, auch wenn sie leise reden, dachte ich immer. 97
Taubenfraß. Frankfurt: Suhrkamp,1999 (suhrkamp taschenbuch 3063)
… ich begebe mich mit der Sprache auf die Reise. Die Reise führt durch den Dschungel des Alltags wie durch die Weiten der Erinnerung, aber ebenso durch die Räume des Traums und die Fischgründe und Abgründe der Unterwelt. Sie passiert die Zollstationen der Reflexion und die Schleusen der Emotion, sie sucht nach dem Glück und durchquert die Einsamkeit. 73
… ich meine, man soll etwas zurücklassen, von dem, was man gelebt hat, man soll es bezeugen. ... Ich werde die Stadt und die Menschen zum Leben erwecken, ich werde die Öde, den Tod bannen. 113
Urkundenfälschung. Journal 2000-2010. Berlin: Suhrkamp, 2012
„das handschellengeeinte Zusammengehen von Leben und Schreiben … in dem Sinne, daß das Leben ganz auf das Schreiben ausgerichtet … ist. 11
… ist mein Wertesystem immer mehr ein beinah schon dinosaurisches Relikt. 20
… ich komme einfach zu keinem Einstieg ins neue Buch, und die Zeit vergeht und der Abgabetermin hinfällig. Ich komme nicht über die Mauer meiner Barrikaden, könnte ich sagen, bleibe in einer inneren Wirrnis stecken. 43
Alles für das Werk geopfert oder verspielt? Die Humanität, auch die Liebe, alles ist ins Werk gegangen. 91
Meine Niemandszugehörigkeit. … Der früh entzogene heimische Grund. 173
Ich nenne es auch meine (Lebens-)Expedition. Aber wohin führt die Expedition, die Suche? Zum Wesentlichwerden? Zum Entbrennen? Durchtönt- und Innesein? Ist mein ewiger Versuch anzukommen und auf die Welt zu kommen, der Wunsch nach Erweckung? Nahe zu kommen – wem? 227
Die Republik Nizon. Eine Biographie in Gesprächen. Wien: selene, 2005
Darum geht es: Leben schaffen, Herrlichkeit und Zauber. … die Schönheit und den inneren Glanz erzeugen, die ich zum Überleben brauche. 155
Ich bin tatsächlich ein Instrument meiner Arbeit geworden. 184
Ein Leben, von dem ein besonderer Duft ausgehen sollte, eine Ermutigung zu leben; einen Mythos. 189
Ein Schreibtisch in Montparnasse. Ein Gespräch [mit Dieter Bachmann]. Göttingen: Wallstein 2011
Die ganze Geisterwelt, sie ist präsent im Kopf eines Menschen, der sich hier niederlässt und hier etwas vollbringen will. 17
Wenn man sich nicht wieder abwenden würde, um sich seiner Sache zuzuwenden, man würde draufgehen. 25
Die Belagerung der Welt. Romanjahre. Berlin: Suhrkamp, 2013
… merkte ich, dass ich das Buch … wirklich nur allein machen kann … in dieser Belagerung und Bebrütung, dem ausschließlichen Daran-Denken rund um die Uhr, im Arbeitstunnel. S. 135
Wörter, wie ich sie eines Tages hasche und schnappe und habe und hinschreibe, Wortwege, Landnahme, Raumschneisen. S. 209
Au boulot, écrire, vite! An die Säcke. Schreiben. Marsch. S. 228
Ich empfinde in deutschen Landen immer eine dünnere Luft, nicht entseelt, aber entfettet, entzogen ist das Lebensschmieröl, verarmt, eine Art Magerluft, kein Begehren in der Luft, kein Glücksversprechen, kein Erotikum, kein Überschwang, es ist der Ernst des Lebens, die Pflicht, die den Ton angibt oder: wenige Lebensfreude, die dich anspränge, das Alltägliche hat nichts Aufreizendes, nichts Romanverdächtiges, nichts Filmhaftes, vor allem nichts Verführerisches, aber auch nicht das in den lateinischen Ländern mitschwingende leise Tragische … Es ist verdammt wenig Anruf in der Luft und schon gar keine Einladung einzutreten in den großen Roman und Reigen, wie es in Paris der Fall ist. Und vielleicht sogar noch in der französischen Provinz; was fehlt, ist der Leichtsinn oder das Aroma der alles versöhnlich einnebelnden großen Illusion. Statt dessen Tatsachen. S. 308f.
Vielleicht holt mich die Tatsache des Alters auf schockierend lähmende Weise ein. Das Gorgonenhaupt des Alters. S. 323
Freude auf ein neues Leben, wenn man denn in meinem Alter noch so sprechen darf. S. 324