Dezember 2015
Peter Handke: Langsame Heimkehr. Erzählung. 8. Auflage. Frankfurt: Suhrkamp, 2013 (st 1069) [Erstdruck 1979].
Das war sein Ausgangspunkt: daß sich, einmal, dem Bewußtsein in jedem beliebigen Landstrich, wenn es nur die Zeit hatte, sich mit ihm zu verbinden, eigentümliche Räume auftaten, und daß, vor allem, diese Räume nicht von den gleich augenfälligen, landschaftsbeherrschenden, sondern von den ganz und gar unscheinbaren, mit keinem wissenschaftlichen Scharfblick wahrnehmbaren Elementen geschaffen wurden (die tatsächlich erst mit der alltäglich da verbrachten Zeit, die dann in der gleichsam von einem bewohnten Natur als Lebenszeit verging, erfahren werden konnten – vielleicht nur in einem sich wiederholenden Stolpern an einer gewissen Erdstelle, der unwillkürlich wechselnden Gangart auf einem ehemals sumpfigen, federnden Wiesenfleck, dem sich ändernden Geräuschhorizont in einem Hohlweg, dem jäh ganz anderen Rundblick auf dem noch so winzigen Restbühel einer Moräne in einem Kornfeld).
Sorgers Erforschungslust wurde auch davon angestachelt, daß diese Örtlichkeiten meistens nicht bloß Phantasieräume eines einzelnen waren, sondern einen überlieferten Namen hatten: vom einzelnen zwar neu entdeckt, erwiesen sie sich aber der ortsansässigen Allgemeinheit als längst schon bekannt; standen in den Katastern und Grundbüchern mit oft jahrhundertealten Bezeichnungen. Welche von den unscheinbaren Landschaftsformen konnten also zu solchen eigenen Bereichen („Fluren“ und „Plänen“) werden, erfahrbar in dem Alltag eines abgelegenen Dorfes ebenso wie dem einer Weltstadt? Welche Farben wirkten da zusammen, welches Material – welche Besonderheit? Hier würde Sorgen die gutgeheißenen Methoden noch anwenden können: doch alles übrige (sein Beweggrund, wie auch sein Traum, es bei der reinen unerklärten Darstellung dieser Formen belassen zu können) war sozusagen Kinheitsgeographie.
Und das war auch Sorgers erste Idee gewesen: die Feldformen der (seiner) Kindheit zu beschreiben; Pläne zu zeichnen von den ganz anderen „interessanten Punkten“: Längs- und Querschnitte herzustellen von all den zunächst undurchdringlichen, im Gedächtnis aber erst das Zuhaus-Gefühl erzeugenden Flurzeichen der Kinderzeit – nicht für Kinder, sondern für sich selber.
S. 112-114
Das ist ein gesetzgebender Augenblick: mich lossprechend von meiner Schuld, der selbstverantworteten und auch der nachgefühlten, verpflichtet er mich, den einzelnen und immer nur zufällig Teilnahmsfähigen, zu einer so stetig wie möglich geübten Einmischung. Es ist zugleich mein geschichtlicher Augenblick: ich lerne (ja, ich kann noch lernen), daß die Geschichte nicht bloß eine Aufeinanderfolge von Übeln ist, die einer wie ich nur ohnmächtig schmähen kann – sondern auch, seit jeher, eine von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form. Ich habe gerade erlebt, wie ich, der bis jetzt Außenstehende (sich manchmal freilich in die anderen ganz Hineindenkende), zu dieser Geschichte der Formen gehörte, und sogar, zusammen mit den Leuten drinnen im Lokal und den draußen auf der Straße Vorübergehenden, in ihr neubeseelt mitspielte. Die Nacht dieses Jahrhunderts, wo ich zwanghaft in meinem Gesicht nach den Zügen der Despoten und Weltherrscher forschte, hat für mich damit ein Ende genommen. Meine Geschichte (unsere Geschichte, ihr Leute) soll hell werden, so wie der Augenblick hell war; - sie durfte bisher ja noch nicht einmal anfangen: als Schuldbewußte, zu niemandem gehörend, auch nicht zu den anderen Schuldbewußten, waren wir außerstande, in der friedlichen Menschheitsgeschichte mitzuschwingen, und unsere Formlosigkeit bewirkte nur immer neue Schuld. Zum ersten Mal sah ich soeben mein Jahrhundert im Tageslicht, offen zu den anderen Jahrhunderten, und ich war einverstanden, jetzt zu leben. Ich wurde sogar froh, ein Zeitgenosse von euch Zeitgenossen zu sein, und ein Irdischer unter Irdischen: und es trug mich (über alle Hoffnung) ein Hochgefühl – nicht meiner, sondern menschlicher Unsterblichkeit. Ich glaube diesem Augenblick: indem ich ihn aufschreibe, soll er mein Gesetz sein. Ich erkläre mich verantwortlich für meine Zukunft, sehne mich nach der ewigen Vernunft und will nie mehr allein sein. So sei es.
S. 177-178