September 2017
Volker Rieble
Wehrpflicht, Atomausstieg und Asylkrise bezeugen den Anspruch der Regierung, geltendes Recht ohne „Mitwirkung“ des zuständigen Gesetzgebers außer Kraft zu setzen und damit die Erste und Legislativgewalt in ihre Schranken zu weisen. Wer sich im Besitz der besseren Wahrheit weiß, braucht keine Ermächtigung. Er kann durchregieren, durch Grenzöffnung europäisches Recht aufheben, unregistrierte und unkontrollierte Zuwanderung mit Freizügigkeit für alle Kommenden anordnen. Souverän ist, wer den gesellschaftlichen Notstand herbeiführt, der eigene Herrschaft noch „alternativloser“ macht. „Wir schaffen das“ ist ein Normbefehl. Ich entscheide, ihr vollzieht. Wehe, ihr schafft das nicht. Die „deutsche Moral“ weiß auch für andere Völker, deren irrige Wähler und die dort Gewählten, was richtig und was falsch ist. Fremdenskeptische Eidgenossen und Ungarn lernen das. Die Schweiz wird publizistisch darüber belehrt, wie schädlich ihre direkte Demokratie ist. …
Dahinter steht eine Vorstellung vom „richtigen Volk“ oder der richtigen Bevölkerung. Erkennbar an jenen Stimmen, die Zuwanderungskritikern nahelegen, sich selbst davonzumachen. Um so mit einem Austausch der schlechten Deutschen durch die besseren Neubürger die Substanz von Volk und Gesellschaft zu verbessern. Kritik hindert das Durchregieren, nervt, stört und „muss weg“. Weswegen alle Pöbler gleich Nazis sind. … Zu konstatieren ist ein neues völkisches Prinzip, das nicht auf Stammes-, sondern auf Gesinnungszugehörigkeit fußt. …
Wir sind auf dem Weg in eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die vieles duldet („Toleranz“) – aber keinen fundamentalen Widerspruch. …
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 25. Okt. 2015, Nr. 43, S. 50