Elmar L. Kuhn

Die Reformation in Oberschwaben


4.2 1525 Bauernkrieg: Die gescheiterte Gemeindereformation

Wieso aus einzelnen isolierten Konfliktherden auf dem Land plötzlich ein Flächenbrand entstand, war für altgläubige Chronisten klar: „Der verfluchte, meineidige Mönch und Ertzketzer Martin Luther hat es mit seinem im Druck verbreiteten Schriften und Büchern dahin gebracht, dass sich Bauersmann, welcher zu Neuerung und Aufruhr geneigt ist, wegen des falsch gepredigten Evangeliums wider die ordentliche und von Gott gesetzte Obrigkeit empört hat“ (Reutlinger, Überlingen). Früherer Widerstand konnte nur auf das „alte Recht“, also die bisherige Rechtslage, verweisen. Mit dem neuen Prinzip des „göttlichen Rechtes“ konnte alles bisherige Recht in Frage gestellt werden.

Das reformatorische Grundprinzip „sola scriptura“, die Schrift allein, ließ nurmehr das Evangelium als Richtschnur für das menschliche Handeln zu, öffnete es aber auch für Auslegungen durch jeden Gläubigen. Dass jeder Christenmensch sein eigener Seelsorger sein kann, und dass das tausendjährige Werk der römischen Autorität nicht mehr gelten soll gegenüber dem lebendigen Verstehen der Heiligen Schrift, war eine umstürzende, befreiende Meinung: „Wir wollen das Gotteswort und Evangelium helfen fördern und predigen ... und nicht mehr Mummenschanz und Menschentand und unter den Marienmantel schlüpfen und Verführen und Bescheißen der Leute (mehr dulden), die goldenen Messen sind aus, das Evangelium Christi ist im Haus“, schrieb der Pfarrer von Esseratsweiler und Kanzlist des Rappertsweiler Haufens seinem altgläubigen Kollegen in Opfenbach.

Das Bewusstsein, dass ihre bisherigen Beschwerden durch eine missbräuchliche Interpretation des Wortes Gottes bedingt sind, und sie nun nicht nur das alte Recht, sondern Gott selbst auf ihrer Seite haben, gab der Bewegung der Bauern ihre ungeheure Schubkraft. Schuld an der Empörung seien die alte Kirche und die Herren, gerechtfertigt sei die Empörung durch die Bibel. Golo Mann schreibt: „Wann immer in der Geschichte Europas das einfache Volk mit den ursprünglichen Texten des Evangeliums in Berührung kam, dann entbrannte sozialer Aufstand, denn es ist eine Botschaft der menschlichen Gleichheit und Gerechtigkeit und den Reichen feindlich gesinnt“. Voll Zuversicht und Pathos glaubte Christoph Schappeler in der Vorrede zu den Zwölf Artikeln: „Ob aber Gott die Bauern erhören will, wer will den Willen Gottes tadeln? Wer will in sein Gericht greifen? Wer will seiner Majestät widerstehen? Hat er die Kinder Israels erhört und aus der Hand Pharaos gerettet, mag er nicht noch heute die seinen erretten? Ja er wird sie erretten! Und in Bälde!“. Was aber der rechte Glaube sei, das beanspruchte in Zukunft die Gemeinde zu definieren. Denn sie will die Pfarrer wählen, die „das heilige Evangelium lauter und klar predigen“. Das entsprach durchaus den Vorstellungen Luthers, der bis 1525 in der Gemeinde die Grundform der zukünftigen Kirchenverfassung sah. Alle in den Zwölf Artikeln aufgezählten gesellschaftsverändernden Forderungen wurden mit Schriftzitaten begründet, so die Abschaffung der Leibeigenschaft: „Christus hat uns all mit seinem kostparlichen Plutvergüssen erlößt. Darum erfindt sich mit der Geschrift, das wir frei seien und wöllen sein.“

Freilich, als die Herren des Schwäbischen Bundes Ulrich Schmid fragen, wer denn das göttliche Recht weisen solle, „Gott wird ja kaum vom Himmel steigen und uns einen Rechtstag halten“ konnte Schmid nur auf „gelehrte, fromme Männer“ verweisen, die den Streit nach göttlicher Schrift entscheiden sollen. Er verwies auf die Reformatoren, also auf neue kirchliche Autoritäten, die sich rasch mehrheitlich vom Vorgehen der Bauern distanzieren, deren Interpretation des Evangeliums gerade nicht teilen.

Dass Luther jegliches „fleischliches“ Verständnis des Evangeliums strikt ablehnte, erfuhren die Bauern zu spät. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ sei rein geistlich zu verstehen, ein Widerstandrecht komme den Untertanen nicht zu. Sie hielten sich an Zwingli, den Züricher Reformator, der in Oberschwaben Einfluß besaß, und vor allem an Christoph Schappeler, den Memminger Prediger. Er sah in der göttlichen Gerechtigkeit auch eine Norm für das öffentliche Leben. „Alle alten und bestehenden Gesetze ... (müssen geprüft werden), ob sie dem göttlichen Gesetz des Nächsten und der Natur entsprechen oder dawider sind“.

Solche Aussagen nahmen etliche reformatorische Geistliche in Oberschwaben ernst, berieten die Bauern, verfassten ihre Schreiben und Programme. Der Memminger Prediger Schappeler formulierte die pathetische Einleitung zu den Zwölf Artikeln und steuerte die Schriftzitate zu den Artikeln bei. Der Kemptner Vikar Waibel beriet die Allgäuer Bauern. Der Esseratsweiler Pfarrer Meister Hans diente dem Seehaufen als Schreiber und verfasste wohl die Rappertsweiler Artikel. Johannes Hüglin verfasste für seine Sernatinger Bauern deren Beschwerdeschrift. An der Donau zog der Pfarrer von Kreenhainstetten mit dem Bauernhaufen. Während des Aufstands stiegen auch Laien auf die Kanzel, wie ein Bauer in Sauldorf, und predigte „nach seinem Gefallen“. In Meßkirch, der Residenz der Herren von Zimmern,  hielten Laien „Winkelkirchen ab und heimliche Predigten“. Waibel und Hüglin büßten ihre Parteinahme mit dem Leben. Schappeler konnte in die Schweiz fliehen. Der Pfarrer von Kreenheinstetten und der Sauldorfer Bauer kamen mit Geldstrafen davon.

Als Bewegung von unten war mit der Niederlage im Bauernkrieg die reformatorische Bewegung auf dem Lande vorläufig gescheitert. Die Frage muss offen bleiben, inwieweit die reformatorischen Lehren wirklich die Massen ergriffen haben oder ob die oft von Geistlichen verfassten Programme täuschen. Sicher ist, dass das „fleischliche“ Missverständnis“ der „Freiheit eines Christenmenschen“, die lutherische Vorstellung von der Gemeinde als Grundeinheit der Glaubensausübung und die Lehre Zwinglis vom Evangelium als Richtschnur auch für das „weltliche Regiment“ passgenaue Legitimationen für die Ziele der Bauern lieferten. Dass aber die Kerninhalte der reformatorischen Lehre wirklich verstanden wurden, darf bezweifelt werden. „Die protestantische Gesinnungsreligion entsprach nicht dem bäuerlichen Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Reformation beseitigte die mit dem Sakramentenempfang verbundene Heilsvergewisserung. Diese konnte im Protestantismus nicht mehr über die Ableistung von Riten und Zeremonien erreicht werden. All dies verlangte den Gläubigen einiges ab“ (Schnabel-Schüle).

Reformatorische Forderungen wurden in der Folge auf dem Lande nicht mehr breit von unten artikuliert. Kleinere Sympathisantengruppen fanden sich trotz allem Gegenterror immer wieder zusammen. So versammelten sich 1526 bei Lindau 300 Bauern zu einer Predigt des Pfarrers von Esseratsweilers, des Schreibers des Seehaufens im Aufstand. Der Graf von Montfort überfiel die Versammlung und ließ den Pfarrer an den Baum hängen. Über ein Mandat dieses Grafen gegen die Glaubensneuerung spotteten Bauern bei Lindau noch 1532: „Wollte der Graf alle die, so wider dieses Gebot gehandelt hätten, strafen, so wüßte niemand, wo der größere Haufe wäre“. Im waldburgischen Erisdorf hielten Bauern 1526 demonstrativ die Fastengebote nicht ein und wurden vom Truchsess bestraft.

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