Elmar L. Kuhn

Die Reformation in Oberschwaben


1. Glaube und Kirche im Spätmittelalter

1.1 Der Glaube

Die Menschen des Spätmittelalters neigten zu einer geradezu exzessiven Frömmigkeit und übten gerade deshalb oft massive Kritik am Zustand ihrer Kirche. In beidem, der übersteigerten Frömmigkeit aus Angst um das ewige Heil und den Missständen der Kirche sehen die Historiker Auslöser der Reformation. Je mehr, desto besser, war die Devise: möglichst viele Gebete, Kniebeugen, Fasttage, Prozessionen, Wallfahrten, möglichst viele Messen, möglichst viele Reliquien. Wer es sich leisten konnte, stiftete Jahrtage, ewige Lichter, Kaplaneien mit der Aufgabe, regelmäßig für das Seelenheil der Stifter Messen zu lesen. So stiftete der Graf Ulrich d. J. von Montfort-Tettnang in seinem Testament 1520 ein Jahrtagsmesse, zu der immer zehn Geistliche anwesend sein mussten. Berufsgruppen schlossen sich zu religiösen Bruderschaften zusammen. Es war eine „Werkgerechtigkeit“ in der Erwartung auf Rettung durch viele äußerliche Werke. Wer viel gibt, erwartet viel. Man trat mit Gott in ein Tauschverhältnis. Man unterhielt eine Art geistliche Buchführung, zählte all die Frömmigkeitsakte, wog ab gegen die zu erwartenden Gnaden, am deutlichsten bei den beliebten Ablässen, bei denen genau fixiert war, wieviel an Sündenstrafen erlassen wird. Wie in der realen feudalen Gesellschaft glaubet man Helfer, Mittler zu benötigen, um sich an Gott zu wenden. Eine Heerschar spezialisierter Heiliger stand bereit für Nöte in allen Lebenslagen. In den Kirchen überwucherten die Heiligendarstellungen die eigentliche Heilsgeschichte. Der drohende Tod, das nach dem Tod bevorstehende Gericht peinigte die Menschen mit Angst, Bilder des Weltgerichts schreckten und forderten Bußakte. Der Nachvollzug der Grausamkeit der Passion ließt hoffen, mehr noch tröstete die Hoffnung auf Beistand der allgegenwärtigen Mutter Gottes.

Fast mehr noch als ihr Glaube beherrschte die Köpfe der Menschen ihr Aberglauben. Überall hat der Teufel sein Hand im Spiel, Leichnam konnte er noch aus dem Sarg heraus holen. Gespenster treiben nachts ihr Unwesen, die Toten finden im Grab keine Ruhe und suchen ihre Familien und Häuser heim. Kranke und Irre gelten als von bösen Geistern besessen. Hexen verbünden sich mit dem Teufel, um ihren Mitbürgern zu schaden.

Ausdruck dieser Frömmigkeit, aber auch des Wohlstands der Region ist der Boom an Kirchenbauten. Alle Pfarrkirchen der oberschwäbischen Reichsstädte stammen aus dieser Zeit, beginnend in Ulm mit dem gigantischen Münsterbau, denen rasch Pfullendorf, Ravensburg, Wangen und Lindau folgten. Die städtischen Kirchen füllten sich durch die vielen Mess- und Altarstiftungen mit Nebenaltären. Welt- und Ordensklerus stellten später nie mehr erreichte Anteile an der Stadtbevölkerung. Die Landbevölkerung war demgegenüber zahlenmäßig deutlich schlechter versorgt. Aber auch ein Gutteil der ländlichen Pfarreien erhielt in diesen Jahrhunderten Neubauten, in der Umgebung etwa Eriskirch, Langenargen (St. Anna), Hiltensweiler, Laimnau, häufig später barock ersetzt oder überformt. Zur Finanzierung auch dieser Kirchenbauten trugen häufig Ablässe gegen Geldzahlungen bei, so zum Bau der St. Anna-Kapelle in Tettnang.

Eine Kirche, deren Klerus vom Papst bis zum einfachen Hilfsgeistlichen in seinem Lebenswandel kaum den eigenen Lehren entsprach, musste Zweifel an ihrem Beistand auf dem Weg zum ewigen Heil wecken. Der amoralische Lebensstil und die primär an der Mehrung von Macht und Einkünften orientierte Amtsführung der Renaissancepäpste sind sattsam bekannt. Papst Leo X. soll nach seiner Wahl zum Papst gerufen haben: „Gott hat uns das Papsttum gegeben, lasst es uns genießen!“ Sein Nachfolger Papst Hadrian VI., die einzige rühmliche Ausnahme, aber nach knapp zwei Jahren Amtszeit schon verstorben, ließ durch seinen Legaten 1523 vor dem Reichstag verkünden: „Wir wissen wohl, dass bei diesem Hl. Stuhl seit Jahren viel Verabscheuungswürdiges vorgekommen, Missbräuche, Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Argen verkehrt hat. … Wir alle, Prälaten und Geistliche, sind vom Weg des Rechtes abgewichen, und es gab schon lange keinen einzigen, der Gutes tat. … Deshalb muss zuerst der römische Hof, von welchem alle die Übel ihren Anfang genommen haben, gebessert werden, dann wird auch von hier die Gesundung beginnen.“ Seine Nachfolger kümmerten sich weiterhin mehr um Politik, Finanzen und ihre Familie als um die Kirche.

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