Ich fasse die wesentlichen Lehren der Reformatoren zusammen und stütze mich dabei auf den „Grundlagentext“ der EKD zum Reformationsjubiläum. In vier „solae“ – allein durch … wird die reformatorische Lehre kurz auf den Begriff gebracht:
„Gottes Zuwendung zum Menschen geschieht allein aus Gnade. Das bedeutet für den Menschen: Er ist nicht in der Lage, durch bestimmte Taten oder ein bestimmtes Verhalten, sei es gegenüber Gott, sei es gegenüber seinen Mitmenschen, (also durch gute Werke) Gottes Zuwendung und Vergebung zu bewirken.“
Die Rechtfertigung „wird nur dann für einen Menschen wirklich, wenn sie in seinem Leben ankommt. Dies geschieht im Glauben.“ Glauben heißt Ja sagen dazu, dass man selbst nichts dazu beitragen kann, dass Gott gnädig ist. Allein durch den Glauben heißt eben nicht durch Werke. Noch nicht einmal den Glauben kann der Mensch aus sich heraus hervorbringen. „Es liegt an der Gnade Gottes, wenn ein Mensch glauben kann.“
„Glaube ist aber zugleich immer auch tätiger Glaube, da er durch den Heiligen Geist ohne Zwang bewirkt wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden. Gute Werke entstehen sozusagen ganz selbstverständlich, quasi automatisch aus dem Glauben.“
Indem die Reformatoren „die Schrift als alleinige Richtschnur zum Maßstab der kirchlichen Lehre machten, wollten sie den christlichen Glauben von den Einflüssen durch theologische Lehren und Frömmigkeitstraditionen befreien. Das sola scriptura richtet sich also gegen einen mit der Schrift in Konkurrenz stehenden Autoritätsanspruch der Kirche. Alle kirchlichen Lehren, die mit den biblischen Texten nicht vereinbar sind, wie z.B. die Vorstellung von einem Kirchenschatz aus Verdiensten aufgrund guter Werke Christi und der Heiligen, werden von ihnen deshalb abgelehnt. Entscheidend ist allein, ob eine Aussage den biblischen Texten entspricht. An ihnen sind kirchliche Lehre und kirchliche Praxis immer wieder neu zu messen.“
„Durch die Schrift mag man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. Denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus, welcher ist der einzige Heiland, der einzige oberste Priester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott.“ (Confessio Augustana).
In der Schrift begründet fand Luther nur noch die beiden Sakramente der Taufe, der Eucharistie, und sehr eingeschränkt der Buße. Zur Wirksamkeit dieser Sakramente bedurfte es des subjektiven Glaubens, aber nicht mehr der Spendung durch geweihte Priester. Die katholische Auffassung der Messe als Opfer lehnten die Reformatoren ab, Christus habe sich am Kreuz geopfert, im Gottesdienst könne das Opfer nicht wiederholt, sondern nur des Opfers Christi gedacht werden. Ebenso wurde die Transsubstantation von Brot und Wein, also die Wandlung verworfen, aber an der Realpräsenz von Leib und Blut Christi in Brot und Wein hielt Luther fest. Den Gottesdienst reformierte Luther nur behutsam. Zwar wurde das Opfer aus dem Messkanon eliminiert, das Abendmahl in beiderlei Gestalt angeboten, Berufungen auf Heilige gestrichen, die Predigt erhielt einen zentralen Platz und der Gemeindegesang ersetzte Psalmenrezitationen, ansonsten blieben die traditionellen Elemente des Gottesdienstes, auch der katholische Festkalender weitgehend unverändert. Aber vor den Sakramenten hat das Wort den Vorrang: „Allein vom Evangelium wird die Kirche gestaltet, genährt, gezeugt, gebildet, gekräftigt“ (Luther).
„Das Einzige, was angesichts der Rechtfertigung auf Seiten des Menschen geschehen kann, ist, dass er glaubt. Glauben wird einem sogenannten Laien genauso geschenkt wie ausgebildeten Theologen. Deshalb sind für die Reformatoren alle Christen gleich. ‚Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und es gibt unter ihnen keinen Unterschied. Dies liegt daran, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und sind gleiche Christen; denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk. Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht.‘ (Luther) Kein weiterer Mittler zu Gott ist nötig. Jeder Christ kann selbständig über die rechte Lehre urteilen. Jeder Christ kann Sünden vergeben und das Evangelium verkündigen. Und jeder Christ kann im Prinzip die Sakramente verwalten, d.h. die Taufe spenden und das Abendmahl austeilen.“
So bedarf es eigentlich keine Kirchenorganisation mehr. „Nur um der Ordnung willen gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Aufgaben, die alle Christen haben, in besonderer Weise, nämlich dafür qualifiziert und öffentlich dazu berufen, ausüben. Ihnen wird von der Gemeinde das Amt übertragen, das die Angemessenheit und Kontinuität von Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung sicherstellen soll.“
Mit der Ablehnung einer die Sakramente verwaltenden kirchlichen Hierarchie musste eine neue Kirchenordnung gefunden werden. Mit der Annahme des Priestertums aller Gläubigen wies Luther zunächst den Gemeinden die Vollmacht zu, „alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, Grund und Ursach aus der Schrift“. Ernüchtert durch die Erfahrungen mit den radikalen Strömungen und vor allem mit dem „fleischlichen“ Verständnis der Freiheit im Bauernkrieg überließ Luther in der Folge im Widerspruch zu seiner Lehre von den zwei weltlichen und geistlichen „Regimenten“ die Kirchenorganisation den weltlichen Landes- und Stadtherrschaften, die ihrerseits Theologen als Wächter über die richtige Lehre und ihre Verkünder einsetzten. Aus einer Reformbewegung entstanden neue „Kirchen“ in Konkurrenz zur römischen Kirche. Was in der „alten“ Kirche getrennt war (außer in den geistlichen Herrschaften): geistliche Hierarchie und weltliche Herrschaft, wurde in den „evangelischen“ Gebieten vereint: Die weltliche Herrschaft übte nun auch die Kirchenherrschaft aus. Entsprechend der Struktur des Reiches entstand keine zentrale Lehrautorität, sondern eine Mehrzahl von Landes- und reichsstädtischen Kirchen.
Ausgehend von Augustinus unterschied Luther das Reich Gottes vom Reich der Welt. Das weltliche Regiment führt das Schwert und hat die Aufgabe, die Ordnung aufrecht zu erhalten gegen die ständige Bedrohung der Welt durch Auflösungstendenzen infolge der Erbsünde. Außerdem hat es den Raum zu sichern, innerhalb dessen die Wortverkündigung und die Sakramentenspendung erfolgen kann. Das ist wiederum Aufgabe des geistlichen Regiments. Grundsätzlich hat der Christ der weltlichen Obrigkeit untertan zu sein und Gehorsam zu üben. Gegenüber einer ungerechten Obrigkeit darf der Untertan nur passiven und gewaltlosen Widerstand leisten. Die radikalen Konsequenzen aus dieser Position zog Luther im Bauernkrieg, als er die Fürsten aufrief , sie könnten sich den Himmel verdienen, wie andere nur mit Beten, wenn sie die Bauern wie tolle Hunde erschlagen! (Ist das nicht Werkgerechtigkeit?) Selbst dem Türken hat der Christ gehorsam zu sein, denn „der Papst ist viel ärger als der Türke“ (Luther).
Im sog. „Augsburger Bekenntnis“ von 1530 erfolgte eine erste Kodifizierung des Glaubens der sich auf Luther berufenden Gemeinschaften und entstehenden Landeskirchen. Nach dem Tode Luthers brachen Lehrstreitigkeiten über die Interpretation insbes. über das Verhältnis des freien Willens zur Gnade, die Rolle der guten Werke und das genaue Verständnis der Realpräsenz auf, meist in Konfrontation zur moderaten Linie Melanchthons. Nach mehreren Versuchen kam es erst 1577 mit der „Konkordienformel“ und 1580 dem „Konkordienbuch“ zu einer Einigung.
Größere und dauerhafte Gräben trennten Lutheraner und die sich auf Zwingli und später Calvin berufenden sog. „Reformierten“. Am stärksten trennte der „Abendmahlsstreit“ die beiden Richtungen der Reformation. Nach Zwingli „bedeuten“ Brot und Wein nur Leib und Blut Christi, während Luther an der Realpräsenz festhält, dass Brot und Wein Leib und Blut „sind“. Nach Zwingli bedürfe man letztlich des Sakraments gar nicht, denn im Glauben an Christus findet man Heil. Im Gottesdienst trat weniger die heilige Handlung als der Gemeinschaftscharakter des Mahls in Erscheinung. Die Liturgie wurde konsequenter als bei den Lutheranern auf einen Predigtgottesdienst mit Abendmahlselementen reduziert. In Ablehnung aller sinnlichen Elemente verloren die reformierten Kirchen fast allen Kirchenschmuck und wurde auch Kirchenmusik und Gemeindegesang abgelehnt. Entschiedener noch als Luther verwarf Zwingli den freien Willen in Sachen des Heils, was Calvin dann zur Lehre von Prädestination radikalisierte, also der Lehre von der Vorbestimmung jedes Menschen zum Heil oder Verdammnis. Anders als Luther wies Zwingli der weltlichen Obrigkeit die Pflicht zu, nicht nur der Glaubensausübung den notwendigen Freiraum zu garantieren, sondern selbst für die Neuordnung der Gesellschaft im christlichen Sinne besorgt zu sein. Was bei Luther wünschbar ist, dass die Obrigkeit eine christliche Obrigkeit ist, ist bei Zwingli unabdingbar. Wiederum anders als Luther gestand Zwingli den Untertanen ein aktives Widerstandsrecht gegen eine unchristliche Obrigkeit zu, „wenn die Menge des Volks das will.“ (Zwingli)
Alle Versuche, sich auf ein gemeinsames Glaubensbekenntnis einigen, scheiterten an der Abendmahlsfrage. Und so bekämpften sich bald Lutheraner und Reformierte gegenseitig nicht weniger als altgläubige Katholiken und Lutheraner. Einig waren beide evangelischen Konfessionen mit den Katholiken in der Ausgrenzung der Täufer.
Über die Rechtfertigung, also genau das, was zur Reformation geführt hatte, hätten sich die Reformatoren und Katholiken vielleicht noch einigen können. Auch in katholischer Lehre kommt der unverdienten Gnade Gottes der absolute Primat zu. Das Verhältnis von Gnade zu freiem Willen und verdienstlichen Werken hat die katholische Kirche allerdings nie definitiv geklärt, ja zeitweise sogar die Diskussion darüber verboten. [Erst 1999 unterzeichneten Vertreter des Vatikans und des Lutherischen Weltbundes die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“: „Der Mensch ist im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade. … Wenn Katholiken an der Verdienstlichkeit der guten Werke festhalten, so wollen sie sagen, dass diesen Werken nach dem biblischen Zeugnis ein Lohn im Himmel verheißen ist. Sie wollen nicht verneinen, dass die Rechtfertigung selbst stets unverdientes Gnadengeschenk bleibt.“ Die Lutheraner betonen, „dass die Gerechtigkeit als Annahme durch Gott und als Teilhabe an der Gerechtigkeit Christi immer vollkommen ist und betrachten, die guten Werke als Früchte und Zeichen der Rechtfertigung, nicht als eigene Verdienste.“ Die Erklärung wurde jedoch bald von Theologen beider Kirchen kritisiert.]
Wichtigstes trennendes Thema blieb in allen Versuchen, sich in sog. „Religionsgesprächen“ zu einigen, die Rolle der Kirche als notwendige hierarchische Institution der Heilsvermittlung mit dem Papst als Lehrautorität an der Spitze, durch geweihte Priester mit der Vollmacht der Sakramentenspendung in katholischer Sicht, während bei den Reformatoren „jeder Christ als Priester unmittelbar vor Gott steht“ (EKD). Kirche ist nach Luther einfach das „im Heiligen Geist versammelte Volk Gottes“, kirchlicher Institutionen bedarf es nur aufgrund der Sündhaftigkeit der Menschen als pragmatische Ordnung, nicht als heilsnotwendige Institution. Beide Seiten, Rom und Luther, begründeten ihre Kirchenlehre aus der Schrift, beide aus dem Matthäus-Evangelium, Rom unter Berufung auf 16, 18-19, wo Jesus Petrus „die Schlüssel des Himmelreichs“ übergibt und ihm zusagt, „was du auf der Erde binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein“, Luther unter Berufung auf 18, 18, wo Jesus allen Jüngern die Vollmacht erteilt, zu binden und zu lösen.