Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


Oberschwaben

Die politische Situation in Oberschwaben charakterisiert ein Artikel in der kurzzeitig erscheinenden "Oberschwäbischen Freien Presse" 1921 wie folgt: "Oberschwaben ist politisch gesprochen - mit wenigen Ausnahmen kleiner Oasen eine Hochburg des Zentrums ... Die Oberschwäbische Arbeiterschaft war bis und während des Krieges jeder Form der modernen Arbeiterbewegung abhold, ja zum großen Teil feindlich gesinnt. Die wirtschaftliche Struktur Oberschwabens, ein buntes Durcheinander von Klein- und Mittelbetrieben und Handwerk und Landwirtschaft, gab zu Recht die Unterlage für die Taktik des niederen Klerus ... Die fast schrankenlose Ausbeutung der proletarischen Arbeitskraft fand nicht einmal Widerstand in einer christlich-sozialen Arbeiterorganisation ... In der oberschwäbischen Hochburg des Zentrums fanden die Versuche, eine christlich-soziale Arbeiterbewegung zu schaffen, nur wenig Gegenliebe. Was in dieser Hinsicht ins Leben kam, war, wie die freie Arbeiterbewegung, zum Vegetieren verurteilt ... Endlich, nach vier langen Jahren, wich auch dieser Druck ... (es) war aller Anlaß gegeben, dass das Proletariat, auch das oberschwäbische, jubelnd in die Reihen der Revolution trat. Da und dort noch ein kurzes Auflehnen gegen die neue Republik, gegen die neue Macht der Arbeiter- und Soldatenräte, dann von seiten der Bourgeoisie ein resigniertes Anerkennen, ein feiges Verkriechen ... Längst ist im Reich, im Land, in Oberschwaben aus der 'sozialen Republik' der alte Ausbeuterstaat wieder geworden ... Wie überall im Reiche, so ging es auch in Oberschwaben: nach kurzem Revolutionsrausche kam die alte Lethargie wieder. Nur in Friedrichshafen, das durch die großen Betriebe des Zeppelin-Konzerns eine politisch geweckte Arbeiterschaft hatte, war das neue Unterordnen unter die alte Fuchtel des Ausbeuter- und Gewaltstaates nicht so schnell möglich. In den übrigen Orten des Oberlandes siegte der Reaktion- und Ausbeuterwille nur zu schnell und zu leicht ... Als erleichterndes Moment, den Druck der Herrschenden zu verstärken, kommt ... in Betracht, dass ein großer Teil der oberschwäbischen Arbeiterschaft sich an die Scholle gefesselt fühlt"65.

Dass die regionalen Gegebenheiten für die Arbeiterbewegung nicht günstig waren, ergibt sich schon aus den strukturellen Daten66: Oberschwaben, d. h. hier die 10 württembergischen Oberämter südlich der Donau, war zu 90 % katholisch. Die größte Stadt Oberschwabens war Ravensburg mit 16.000 bis 17.000 Einwohnern, an zweiter Stelle folgten vor dem Krieg Biberach mit knapp 10.000, nach dem Krieg Friedrichshafen mit über 10.000, bald 12.000 Einwohnern, an dritter Stelle Weingarten, Nachbarstadt von Ravensburg mit 7.000 bis 8.000 Einwohnern, alle anderen Oberamtsstädte zählten 2.500 bis über 5.000 Einwohner. Entsprechend klein waren die Arbeiterzahlen im produzierenden Gewerbe, jetzt bezogen auf die ganzen Oberamtsbezirke. An der Spitze standen wieder das Oberamt Ravensburg mit nach dem Krieg etwa 7.000 Arbeitern und das Oberamt Tettnang mit Friedrichshafen mit etwa 5.000 Arbeitern. In allen anderen Oberämtern wohnten im Durchschnitt etwa 2.700 Arbeiter. Nur in den Städten Biberach, Ravensburg, Friedrichshafen und wahrscheinlich in Wangen waren mehr als 1.000 Arbeiter beschäftigt, in Ravensburg und Friedrichshafen jeweils knapp 4.000 in den 20er Jahren. Größere Betriebe mit über 500 Beschäftigten gab es nur in Friedrichshafen, Ravensburg, Weingarten und Wangen. Außerhalb von Ravensburg-Weingarten und Friedrichshafen waren deshalb von den absoluten Größenordnungen her die Voraussetzungen für eine Arbeiterbewegung wenig förderlich. Friedrichshafen spielte ohnehin eine Sonderrolle, als es in seinen Wachstumsraten sowohl der Bevölkerung wie der Arbeiterschaft alle anderen Städte weit überragte, also eine sehr wenig stabile Sozialstruktur aufwies.

Diese objektiven Daten spiegeln sich auch in den Wahlergebnissen vor dem Krieg67: Bei den letzten Reichstagswahlen 1912 erreichte die SPD im Oberamt Ravensburg gerade 10 %, in allen anderen Oberämtern im Durchschnitt 5, maximal 6 %, und kam damit kaum über den Rang einer Splitterpartei hinaus. Nur in den Städten Biberach und Ravensburg entschieden sich mit 20 % eine ansehnliche Zahl Wähler für die Sozialdemokratie, gefolgt von den Städten Laupheim, Weingarten, Friedrichshafen und Wangen mit jeweils ca. 16 %. Mit in allen Oberämtern über 80 % bis zu 92 % der Stimmen für das Zentrum konnte die politische Landkarte Oberschwabens kaum mehr schwärzer eingefärbt sein. Entsprechend schwach war der Mitgliederbestand der SPD in Oberschwaben, in allen 10 Oberämtern zählte sie ca. 350 Mitglieder, davon knapp 100 in Ravensburg, größere Ortsvereine mit 45 bis 50 Mitgliedern existierten noch in Biberach, Laupheim, Leutkirch, Friedrichshafen und Wangen. Um dieses "steinige Gebiet zu beackern", hatte der Landesverband der SPD ein eigenes "Parteisekretariat für Oberschwaben" in Ulm mit dem Sekretär Ruggaber eingerichtet, der in der Revolution noch häufiger eine Rolle spielen sollte. "Die indifferenten katholischen Arbeiter und die vom Klerus beherrschten Mittelschichten der oberschwäbischen Bevölkerung von der Notwendigkeit der politischen Organisation und des Klassenkampfes zu überzeugen, begegnet großen Schwierigkeiten und erfordert zähe, andauernde Arbeit"68.

Oberschwaben war anders. In diesem Urteil stimmten Altwürttemberger und die Oberschwaben selbst überein, gewertet haben sie es unterschiedlich69. Das traf strukturell zu, Oberschwaben galt selbst nach württembergischen Maßstäben als „wirtschaftlich zurückgebliebene Gegend“, das traf für die Mentalität zu: „Die Kräfte des Beharrens sind (dort) stärker in Staat, Kirche und in sozialen Verhältnissen“, wiederholte die amtliche Landesbeschreibung über drei Auflagen hinweg70.

„Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte, aber hier fährt man mit der Schwäbischen Eisenbahn“71.Wie sah unter diesen Bedingungen eine Revolution entlang der Schwäbischen Eisenbahn aus? Über die Revolution in Württemberg auf Landesebene, in Stuttgart und Umgebung liegen genügend Untersuchungen vor, soweit bekannt jedoch keine über württembergische Einzelregionen. Ich beschränke mich hier auf die Vorgänge auf Bezirks-(Oberamts-)Ebene, in den Oberamtsstädten und den beiden Garnisonsstädten Weingarten und Isny72.

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