Das Bürgertum, in Oberschwaben eigentlich das Kleinbürgertum, hat sich bis zur Revolution "als Teilhaber an der Macht und als Stütze der Gesellschaft fühlen können"204, mehr noch, es war auf kommunaler Ebene Inhaber der Macht und eben die Gesellschaft. Nun plötzlich muss es kurzfristig fürchten, die bisherigen Staatsfeinde hätten die Macht erobert und bedrohten die Grundlage der bisherigen sozialen Stellung. Aber die Bürger erholen sich rasch von ihrem Schrecken, formieren sich, stärken ihr Selbstbewusstsein in den oben beschriebenen Versammlungen und melden ihre Forderungen an. Hauptziel ist zunächst die möglichst rasche Abhaltung von Wahlen, die das Gewicht der eigenen Zahl gerade in der Provinz wieder zur Geltung bringen sollen, und die Wahlen in Ravensburg haben ja schon kurz nach der Revolution die wahren Kräfteverhältnisse gezeigt. Aber man lernt auch rasch vom Gegner und eignet sich dessen Organisations- und Aktionsformen an: die Räte und den Streik in Form bürgerlicher Abwehrstreiks.
Am 12. November, also am gleichen Tag, an dem die Reichsregierung zur Bildung von Bauernräten aufrief, erlässt der Hansabund, ein den liberalen Parteien nahestehender Interessenverband von Banken, Handel und Exportfirmen, einen Aufruf zur Bildung von Bürgerausschüssen, der schon am 13. November auch in schwäbischen Zeitungen erscheint. Aufgaben sollen die "Wahrung der bürgerlichen Rechte und die volle Gleichberechtigung des Bürgertums bei allen staatlichen Maßnahmen" sein205. Am 15. November fordert die württembergische Zentrumspartei die "Schaffung ordentlicher Volksräte, welche aus allen Berufsständen und allen politischen Parteien zusammengesetzt werden sollen"206. Weitere Gründungen im ganzen Lande sucht dann der am 18. November beschlossene und am 2. Dezember konstituierte Bürgerrat von Groß-Stuttgart anzuregen: "Das Bürgertum in ganz Deutschland ist erwacht. Nun gilt es in Stadt und Land, sich zu Bürger-und Bauernräten zusammenzuschließen"207. Delegierte der Bürgerräte gründen am 5. Januar 1919 in Berlin den Reichsbürgerrat. Vertreter der württembergischen Bürgerräte treffen sich am 15. Januar 1919 in Stuttgart und bilden einen Landesverband der württembergischen Bürger- und Bauernräte (s. o.). Die Stuttgarter Versammlung zeigt immerhin "volles Verständnis, dass der soziale Gedanke mehr als bisher in das Wirtschaftsleben hineingetragen wird". Sie erklärt sich allerdings "mit aller Entschiedenheit für die Abschaffung des Rätesystems". Solange es aber bestehen bleibe, verlangen die Bürgerräte "volle Gleichberechtigung mit den bestehenden Arbeiter- und Soldatenräten"208.
Trotz der Erfolge mit dem frühen Wahltermin und mit der Aufstellung der Reserve-Sicherheitstruppen im Frühjahr halten die Bürgerräte ihre längerfristige Existenz bald für unverzichtbar. Im Juni 1919 veröffentlicht der Bürgerrat Groß-Stuttgart einen neuen "Aufruf zur Gründung von Bürgerräten in den größeren Städten Württembergs", eine Art Programm: Grund für die Bildung des Bürgerrats sei die Ratlosigkeit des Bürgertums nach der Revolution gewesen und die starken Gegensätze zwischen den bürgerlichen Parteien, so "dass sie zu einem einheitlichen Arbeiten selbst bei Lebensfragen des Bürgertums nicht zusammengebracht werden können". Der Bürgerrat fasse deshalb "auf berufsständischer Grundlage ... die Kreise, welche man bisher allgemein als Mittelstand bezeichnet hat, zu einer gemeinsamen und ersprießlichen Arbeit" zusammen. Bei den Zukunftsfragen des "Aufbaus der neuen Wirtschaft", "der Finanzierung unserer Schuldenlast" und der Überleitung des Rätesystems in die Bildung von Beiräten müssen die Interessen des Mittelstands gewahrt werden. Dazu müsse "mit Massenversammlungen und Massenbeschlüssen ... der nötige Druck ausgeübt werden, wenn das bürgerliche Element dem von der Arbeiterschaft angewandten Gegendruck die Stange halten soll"209.
In Oberschwaben entstehen drei selbständige Bürgerräte: In Leutkirch, Ravensburg und Ehingen. Warum in Leutkirch ein eigener Bürgerrat sich bildet, am 16. November als erster in Oberschwaben, obwohl der Arbeiterrat vom Zentrum dominiert wird und bürgerliche Vertreter aufnehmen könnte, bleibt unklar, wahrscheinlich hängt es mit Spannungen innerhalb der Zentrumspartei zusammen, denn der Arbeiterratsvorsitzende Laub, christlicher Arbeitersekretär und Landtagsabgeordneter, zählt zum linken Flügel der Zentrumspartei. Der Bezug auf den Aufruf der Zentrumspartei zur Bildung von Volksräten ist irreführend, denn diesen Volksräten sollen ja gerade alle Berufsstände angehören. Beim Programm bleibt man sehr allgemein: "Zweck des Bürgerrats ist, unter Ausschluss jeder Parteipolitik, die Sammlung aller derjenigen herbeizuführen, welche sich weder im Arbeiter-, Soldaten- oder im Bauernrat vertreten sehen, also vor allem der Handel- und Gewerbetreibenden, der öffentlichen Beamten und Privatbeamten aller Kategorien, der freien Berufe, der Handwerker und Privatleute usw., damit auch diese Kreise bei dem schwierigen Werk des Neubaus der deutschen Heimat mitraten und mittaten können ... im tunlichst engen Zusammenschluss mit den übrigen Räten"210. Es bildet sich zwar zunächst in der "Versammlung von Bürgern aus allen Ständen" ein 15köpfiger Ausschuss (u.a. mit einem Kaplan und zwei Frauen und wie meist einem Rechtsanwalt als Vorsitzendem), aber im Unterschied zu den anderen Bürgerräten will der Leutkircher Rat eine Mitgliederorganisation aufbauen und lädt Männer und Frauen über 20 Jahre in Stadt und Bezirk zum Beitritt ein. Der ausschließlich mit Stadtbürgern besetzte Ausschuss soll durch Zuwahlen aus dem Bezirk ergänzt werden. Dazu kommt es wohl nicht mehr, nachdem auch in Wurzach am 1. Dezember ein Bürgerrat gegründet wird, der "als selbständiger Bestandteil des Bürgerrats Leutkirch" sich versteht, dem etwa 100 Personen beitreten, und der einen neunköpfigen Ausschuss wählt. Hier wird denn auch schon lautstärker die Gleichberechtigung mit den anderen Räten gefordert211. Eine gewisse Anerkennung zollt das Oberamt dem Vorsitzenden des Leutkircher Bürgerrats, indem er ihn in den Demobilmachungsausschuss beruft. Mit einer gemeinsamen Resolution mit dem Bauernrat, die Gleichberechtigung mit den Arbeiterräten und Vorverlegung der Wahlen verlangt, und einer Versammlung Mitte Dezember scheint auch schon der Höhepunkt der Aktivitäten erreicht.
In Ravensburg ist die Situation anders. Dort dominiert die SPD den Arbeiterrat, der Wahlkampf hatte polarisiert. Als am 26. November eine "Bezirksdelegiertenversammlung aller bürgerlichen Parteien" die Mitglieder des hier Volksrat genannten Bürgerrats wählt, betont man zwar zunächst den Willen, "nicht gegen den ASR, sondern mit diesem zusammenzuarbeiten, namentlich einzutreten für Ruhe, Ordnung, geordnete Volksernährung, Erhaltung und Förderung der landwirtschaftlichen Betriebe und der Erzeugung, geregelte Durchführung der Demobilisation"212. Aber schon in der ersten Sitzung des Volksrats wird das Feindbild beschworen: "Dass das gesamte Bürger- und Bauerntum, die Anhänger der christlichen Angestellten und Arbeiterschaft sich zu einem festen Block zusammenschweißen müssen, um der roten Gefahr zu begegnen". Besonders die Landbevölkerung müsse aufgeklärt werden, damit die dort immer noch herrschende "Missstimmung" über die frühere Regierung und das Militär nicht in den "politischen und wirtschaftlichen Selbstmord" führe213. Dem Volksrat gehören 44 Mitglieder an, aus Ravensburg zwölf (davon drei Arbeiter), Weingarten sechs (zwei Arbeiter) und aus 21 Landgemeinden 26 Räte (fünf Arbeiter). Das Aktionskomitee setzt sich aus vier "Herren" der Landwirtschaft und fünf der übrigen Stände zusammen unter dem Vorsitz eines Rechtsanwalts. Der Volksrat verlangt alsbald, zu den regelmäßigen Besprechungen der Stadtverwaltung und des Oberamts mit dem Arbeiterrat zugezogen zu werden, wogegen der Oberbürgermeister verständlicherweise nichts einzuwenden hat, wozu es aber offensichtlich auf Einspruch des Arbeiterrats nicht kommt.
In Ehingen beruft der Stadtrat und Schriftleiter der örtlichen Zeitung Louis Feger, der die Aktivitäten des kurz zuvor gebildeten Arbeiterrats mit giftiger Feder verfolgt, am 18. Dezember eine Versammlung ein, auf der er "gegen die Terrorisierung der hiesigen Bürger durch gewisse Elemente" wettert und die Wahl eines Bürgerrats aus je drei Beamten, Gewerbetreibenden, Kaufleuten, Handwerkern und Arbeitern veranlasst214. In der einzigen Sitzung einige Tage später schließt man sich der Kundgebung des Stuttgarter Bürgerrats am 14. Dezember (s.o.) an, der nur unter Vorbehalt die republikanische Regierungsform anerkennt, und ficht die Wahl des Ehingers Soldatenrats an. Dann findet man bald, dass die Herrschaft über die Zeitung die Macht des Bürgertums effektiver sichert als Sitzungen des Bürgerrats.
Ein Sonderfall ist der bei den Arbeiterräten mitbehandelte Volksrat Riedlingen. Er ist durchaus nach dem Muster anderer Arbeiterräte, wie etwa in Saulgau und Waldsee, zustande gekommen, wenn auch auf Einladung einer katholischen Organisation, und umfasst Vertreter verschiedener Berufsgruppen mit Ausnahme der Bauern. Seine Benennung als Volksrat signalisiert hier keine Abgrenzung zu einem Arbeiterrat. Zu seiner Nichtanerkennung durch den Landesausschuss der ABRe können deshalb eigentlich keine rechtlichen, nur politische Gründe führen, wahrscheinlich das bloße Missverständnis seiner Benennung. Aber mangels Tätigkeitsdrang legt dieser Volksrat auf diese Anerkennung auch offenbar keinen Wert und versteht sich später auch formell als Bürgerrat, in deren reichsweitem Verzeichnis er 1920 aufgeführt wird.
Allen Bürger- und Volksräten gemeinsam ist, dass man bald nach ihrer Gründung kaum noch von ihnen liest. Sie machen nochmals auf sich aufmerksam, als sie im April/Mai zum Eintritt in die Reserve-Sicherheitskompanien aufrufen, das ist für Leutkirch und Riedlingen das letzte Lebenszeichen, von Ehingen bemerkt man schon vorher nichts mehr. Der Bürgerrat Groß-Stuttgarts nutzt die Gelegenheit, wiederum zur Gründung von Bürgerräten aufzufordern zum Schutz "von Weib und Kind, Haus und Hof", im Oberland ohne Resonanz215. Nur der Volksrat des Bezirks Ravensburg mobilisiert ein Jahr später, während des Ruhrkampfs nach dem Kapp-Putsch 1920, nochmals mit anderen bürgerlichen und bäuerlichen Organisationen Ängste wegen einer drohenden "Schreckensherrschaft" und "Umtrieben" der Linksradikalen im Oberland: "Es ist eine Lebensfrage, dass wir den unaufhörlichen Beunruhigungen ein Ende machen ... darum hinein in die Einwohnerwehr", die Nachfolgeorganisation der Reserve-Sicherheitstruppen216. Alle bürgerlichen Räte (Ehingen, Leutkirch, Ravensburg, Riedlingen) werden aber noch 1920 in einem Mitgliederverzeichnis des Reichsbürgerrats aufgeführt, im Folgeverzeichnis von 1921 noch Ehingen, Leutkirch, Ravensburg. Der Volksrat Ravensburg soll 1920 in eine noch breitere Dachorganisation der bürgerlichen Kräfte übergeleitet werden. In "Verhandlungen zwischen den Führern der Einwohnerwehr und den Verbänden aus Industrie, Handel, Handwerk, Landwirtschaft und Beamtenschaft" konstituiert sich ein vorläufiger Aktionsausschuss eines "Oberschwäbischen Volksbundes" zunächst für das Oberamt Ravensburg, der auf die anderen oberschwäbischen Oberämter ausgedehnt werden soll217. Unter der neuen Bezeichnung einer Ortsgruppe des „Schwabenbundes“ (s. u.) existiert der Volksrat Ravensburg noch 1922, solche Ortsgruppen werden in Kißlegg und Wurzach sogar neu gegründet. Aber mehr als die Existenz ist nicht mehr zu vermelden218. Die Hegemonie des Bürgertums ist ohnehin nicht gefährdet.
In Leutkirch ist der Bürgerrat neben, in Ehingen und Ravensburg gegen die Arbeiterräte entstanden. In Riedlingen lässt sich der Volksrat auf die Rolle als Bürgerrat reduzieren. Neben den bürgerlich dominierten Arbeiterräten Waldsee und Wangen sind Bürgerräte überflüssig. In Biberach und Saulgau gelingt es moderaten SPD-Arbeiterratsvorsitzenden, die bürgerlichen und bäuerlichen Kräfte in die ABRe einzubinden. In Friedrichshafen ersetzt der Chef des Luftschiffbau-Konzerns, Generaldirektor Colsman, allein einen Bürgerrat, indem er bei Bedarf das Bürgertum zu Versammlungen zusammenruft und zum Bürgerstreik im April 1919 mobilisieren will. Die Aktivitäten der Bürgerräte wie die der Bauernräte bleiben bescheiden. Auch hier gibt es keinen Bedarf an zusätzlichen Institutionen, die Dominanz in den kommunalen Gremien ist immer gegeben, in einem dichten Netz von Staats- und Wirtschaftsorganisationen können die Interessen artikuliert werden. Nur in kurzen Phasen der Verunsicherung nach der Revolution und im Frühjahr 1919 besteht in einigen Städten offenbar das Bedürfnis nach besserer Koordination der im Vergleich mit den Bauern stärker zersplitterten parteipolitischen und verbandlichen Organisationen.
Länger bestehen die Bürgerräte auf der oberen Ebene. Statt des bald nicht weiter erwähnten Landesverbands der Bürger- und Bauernräte übt der Bürgerrat Groß-Stuttgart eine leitende Funktion für Württemberg aus. Er geht 1922 im "Schwabenbund" auf und will "in dieser größeren Organisation seine gegenrevolutionäre Tätigkeit fortsetzen"219. Der Reichsbürgerrat führt noch länger Feldzüge gegen die "marxistischen Ideen" und den Versailler Vertrag und löst sich erst 1931 auf220.