"Jedes Land, jede Stadt und jedes Dorf hatte seine eigene Revolution mit eigenen, lokalbedingten Formen"244. Auch in Oberschwaben löst sich die Schulbuchvorstellung einer Revolution in eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelvorgänge auf. Aber wenn die deutsche Revolution die Summe der einzelnen lokalen Revolutionen war, kann auch für diese Region der Versuch einer Summe gewagt werden. War es denn eine Revolution?
Wenn wir uns an die griffige Definition von Lawrence Stone halten: "Eine durch Gewaltanwendung herbeigeführte Veränderung der Staatsform und/oder der Gesellschaft"245, so hat eine Veränderung der Staatsform und ein damit verbundener Austausch des staatlichen Führungspersonals sicherlich stattgefunden. Eine Revolution in diesem Sinne gewollt und betrieben haben eine seit Ende Oktober wachsende, schließlich die Mehrheit bildende Zahl von Arbeitern in Friedrichshafen unter Führung von USPD-Aktivisten in enger Verbindung mit dem Stuttgarter Spartakus-Zirkel. Gewollt hat sie auch eine Minderheit in Ravensburg, beteiligt hat sie sich aber erst, nachdem der Sieg in den Hauptstädten schon feststand. Die Sympathisanten, Anhänger der sozialistischen Parteien in den anderen Städten, haben erst später "mitgemacht"246. Den Zug setzten die einen unter Dampf und andere sprangen auf, weil ihnen die sozialistische Theorie wieder einen plausiblen Interpretationsrahmen bot für den Krieg und seine Ursachen, für die eigene soziale Lage, ein Feindbild beschrieb und Ziele aufwies, wie Fortdauer von Krieg und Elend verhindert werden könnten.
Von den Soldaten ging in Oberschwaben kaum eine Initialzündung aus. Wenn sie sich der Revolution anschlossen, früher in Isny, am 9. und 10. November in den übrigen Städten, dann, weil sie am raschesten den Frieden wollten. Sie stürzten das alte System, weil sie es nicht mehr stützten. Die Revolution konnte nur siegen, weil niemand mehr das alte System verteidigte. Den Frieden wollten (fast) alle, die Revolution, zumindest in Oberschwaben, nur eine Minderheit. Aber weil die Revolution den Frieden brachte, nahm man sie hin. Die Revolution "ist in den Städten gemacht worden, und das Land hat sie über sich ergehen lassen"247. Nach der Revolution sah man zunächst keine Möglichkeit der Revision, die Wiederherstellung der "Ordnung" auch im neuen sozialstaatlichen Rahmen hatte Vorrang. Aber rasch brachen die Interessengegensätze auf. Die Ziele der Mehrheit der Arbeiter wiesen nach vorne: Sozialisierungsschritte als bessere Fundierung der Demokratie. Die Interessen der Bauern und (Klein-)Bürger wiesen zurück: Wiederherstellung der sozialen Verhältnisse vor dem Krieg. Was die einen wollten, weckte existentielle Ängste der anderen. Konkret trennten die Erwartungen an Beibehaltung oder Aufhebung der Lebensmittelzwangswirtschaft Arbeiter und Bauern, die Wohnraumbewirtschaftung Arbeiter und Bürger, die Verbesserungen der Arbeitsverfassung drängte die Arbeitgeber zunächst in die Defensive. Die Inflation deklassierte den Mittelstand wirtschaftlich. Jede Änderung wurde als "Chaos" wahrgenommen, für das, wie für alle Kriegsfolgen, die Linke und die neue Staatsform verantwortlich gemacht wurden.
Karl-Ludwig Ay beschreibt das Trilemma der jungen Republik: "Die Sozialdemokratie wollte nicht mehr ... als die bürgerliche parlamentarische Demokratie klassisch-westlichen Musters. Sie stützte sich dabei auf eine Arbeiterschaft, der es um mehr ging, nämlich um Demokratie nicht nur im Staat, sondern auch in den gesellschaftlichen Beziehungen, und sie setzte sie durch gegen ein Bürgertum, das sich mehrheitlich zurücksehnte nach dem autoritären monarchischen Rechtsstaat ... Die bürgerliche demokratische Republik der Sozialdemokratie hatte keine bürgerliche Basis, weil sie den Wünschen der Bourgeoisie zu weit ging und weil das Kleinbürgertum ... sie für sozialistisch und damit böse hielt. Sie hatte aber auf lange Sicht auch keine ausreichend tragfähige Basis in der Arbeiterschaft, weil sie zum demokratischen Staat keine demokratische Gesellschaft fügte und also nicht sozialistisch genug war ... so kam es zu der paradoxen Situation, dass sich ein bürgerlich-demokratisches Staatswesen vorwiegend auf den größeren Teil einer Arbeiterschaft stützte, in der die Tradition des antibürgerlichen Klassenkampfes weiterlebte, während sich das Bürgertum nicht zu der bürgerlichen Verfassung bekannte"248.
Die Oberschwaben hatten an einer Revolution teilgenommen oder die Revolution hingenommen, die sie letztlich doch als eine Revolution von oben begriffen. Entschieden wurde sie ohnehin in den Hauptstädten. Nachdem die Revolution "gesiegt" hatte, erwartete man wieder von Regierung und Parlament die Entscheidungen. Streiks und Demonstrationen sollten Druck ausüben, damit die erwünschten Gesetze und Verordnungen erlassen würden, die Demonstranten realisierten ihre Forderungen aber nicht selbst vor Ort, verhielten sich bis auf Ausnahmefälle legalistisch. Fehlte es schon oben an strategischen Konzepten, so gab es sie unten gar nicht. Keine linke Parteiorganisation, kein Arbeiterrat formulierte ein Programm für konkrete weitere Demokratisierungsschritte in der eigenen Stadt, gar für die Sozialisierung örtlicher Firmen. Die bürgerlichen Parteien hatten solche Programme nicht nötig, ihr Programm war der Status quo oder Status quo ante.
Die bürgerlichen Parteien betrieben konsequent eine Politik im Sinne der Interessen ihrer Klientel. Den Sozialdemokraten in den Regierungen war in den entscheidenden Wochen die Ordnung wichtiger als die Frage, welche Ordnung sie da zementierten, sie verschoben die Neuordnung, bis es zu spät war für entscheidende Reformen in Wirtschaft, Verwaltung und Militär.
Wenn es 1918/19 eine deutsche Revolution gab, an der sich auch Oberschwaben beteiligten, gab es denn eine oberschwäbische Revolution oder eine Revolution in Oberschwaben? Auf Zeit kann wohl von einer Machtteilhabe der Räte in einigen Städten gesprochen werden. Und den oberschwäbischen Arbeitern kamen natürlich auch die Verbesserungen der Arbeitsverfassung zugute. Die Frauen erhielten das Wahlrecht, nicht mehr nur die Bürger, sondern die erwachsenen Einwohner konnten nun Gemeinderäte und Schultheißen wählen, vorher waren die Arbeiter de facto größtenteils ausgeschlossen. Auch wenn nun einige Arbeitervertreter in den Gemeinderäten saßen, eine Revolution in den Gemeinden analog der revolutionären Änderung der Staatsverfassung fand nicht statt, geschweige denn gravierende Änderungen der Gesellschaftsstruktur in Oberschwaben. Oberschwäbische Arbeiter und Soldaten beteiligten sich an der Revolution in Oberschwaben, um revolutionäre Änderungen von oben durchzusetzen, profitierten auch von den Reformmaßnahmen der neuen Regierung, aber die Revolution zeitigte keine Revolution in Oberschwaben im Sinne revolutionärer Folgen in der Region. Meinte denn die Mehrheit derer, die in der Provinz von Revolution sprachen, mehr als Reformen?
Die Verwaltungen in der Region „mauerten“ sicher noch mehr als die „revolutionierten“ Regierungen in Land und Reich. Dabei war auch „unten“ der Entscheidungsspielraum ebenso größer als wahrgenommen und gewollt wie „oben“, wie gerade die Bandbreite der möglichen Verhaltensweisen der Stadt- und Bezirksverwaltungen erweisen. Freilich hing die Bereitschaft, den Arbeiterinteressen entgegen zu kommen, unmittelbar von der Stärke der Arbeiterbewegung und vom Geschick ihrer Führer, aber auch von den Personen auf der Gegenseite ab.
Die Enttäuschung über die gegenüber den Verheißungen und Erwartungen vergleichsweise geringen Veränderungen trieb einen Teil der Arbeiter in die Radikalisierung. Die Erinnerung an das kurze Ohnmachtgefühl nach der Revolution, der Verbalradikalismus der Parteien links von der SPD, Statusfurcht und Ablehnung jeder Machtteilung veranlassten die Bürger zum militanten Gegenangriff. Die immer kleine Zahl ihrer Anhänger in Oberschwaben, nennenswert nur in Städten mit Metallindustrie, kompensierten USPD und KPD durch lautstarke Agitation, zeitweise sogar eine eigene Zeitung. Erfolgsaussichten hatten sie hier, ob durch Wahlen oder durch Putsche, nie. Sie ermöglichten aber Militär und Bürgern, eigene Gewalt als Gegenwehr zu begründen. Den Bürgern hatte zuviel Revolution stattgefunden, einem Teil der Arbeiter zu wenig, auch zu wenig Reformen. Die Bürger konnten sich mit dieser Republik nicht befreunden, weil sie ein Produkt der Revolution war, ein Teil der Arbeiter nicht, weil sie ihren revolutionären Ursprung verleugnete. Wollten radikale Arbeiter ihre Minderheitenposition nicht realisieren, so wollten Bürger ihnen nicht einmal diese politisch zuerkennen. Zwischen beiden wurde die SPD als Reformpartei zunächst gestärkt, nach der Revolution zerrieben. So war die Geschichte der Revolution auch in Oberschwaben die ihrer schrittweisen Zurücknahme, die schließlich zum Sieg der offenen Diktatur über die ungesicherte Demokratie führte.
Von einer „Rätebewegung“ in Oberschwaben wird man kaum sprechen können, dazu waren die Ansätze, Träger, Ziele zu disparat. Ausdruck einer parteiübergreifenden, aber USPD-geführten „Bewegung“ waren die Räte in Friedrichshafen im Oktober und November. Auf eine „Bewegung“ können sich anfangs noch die Arbeiterräte in Ravensburg, länger noch in Saulgau stützen. Über die Leistungen der Räte sind schon unter den Zeitgenossen selbst in der SPD die Meinungen auseinandergegangen. Der SPD-Landesvorsitzende und Rätefeind Keil meinte 30 Jahre später: "Im allgemeinen erwiesen sie sich als arbeitsunfähig"249, während sein mindestens so moderater Ministerkollege Dr. Lindemann ihrer Tätigkeit attestierte, "dass sie sehr viel dazu beigetragen hat, Vertrauen in die Bevölkerung, deren Vertreter sie sind, hineinzutragen"250.
Wenn man die gängigen Kategorien von Räten als Kampf-, Kontroll-, Mit- und Selbstverwaltungsorgane sowie Interessenvertretungen akzeptiert251, so operierte ab dem 9. November kein oberschwäbischer Rat als Kampforgan, nur sehr eingeschränkt konnten sie aufgrund des effektiven Widerstands der Verwaltungen als Kontrollorgane fungieren. Gerade in der Kontrolle der Verwaltung wurden die Arbeiterräte vom Innenministerium weitgehend im Stich gelassen, ob dies vom USPD-Minister Crispien oder von den SPD-Ministern Dr. Lindemann oder Heymann geführt wurde. Sofern sie überhaupt nennenswert aktiv wurden, wirkten sie als Mitverwaltungs- und zunächst kompensatorische Interessenvertretungsorgane, z.T. als verlängerte Arme der sie dominierenden Parteien. Sie ließen sich wie die SPD auf Landes- und Reichsebene in die Mitverantwortung für die Chaos-Abwehr einbinden und wurden geduldet, bis die größten Schwierigkeiten überwunden waren. Indem sie zur Befriedung durch den Anschein der Machtteilhabe beitrugen, waren sie tatsächlich Organe der Regierung, von dieser widerwillig auf Zeit hingenommen. Als Organe der bloßen Mitverwaltung machten sich die Räte bei ihrer eigenen Basis, den Arbeitern, und bei den Bauern unbeliebt, wollten sie ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen, stießen sie auf den Widerstand der Behörden. Der Großteil der SPD-nahen Räte sah seine eigene Funktion als vorübergehend an (die bürgerlichen ohnehin), erst die Enttäuschung über die Untätigkeit der Regierung ließ eine längere, eventuell dauernde Existenz notwendig erscheinen. Aber gerade die Institutionalisierung, ja Bürokratisierung mit ihrer Abhängigkeit von den Zahlungen der Gemeinden, schwächte die Räte entscheidend. Später sahen es ihre Führer als Fehler, „nicht von Anfang an (die) Rechte entschieden durchzusetzen versucht“ zu haben. Deshalb habe im Sommer 1919 „die Arbeiterschaft das Interesse am gegenwärtigen Rätesystem verloren“252. Einige der oberschwäbischen Räte waren freilich von vornherein von Gegnern der Revolution und der Räte gegründet oder sogleich besetzt worden, um sie gegen die Anhänger der Revolution zu blockieren.
Wenn sich die Arbeiterräte einer Rolle als Kampforgane nach dem 9. November versagten, den Rahmen ihrer durch die Satzung zugewiesenen Aufgaben kaum überschritten und selbst bürokratieähnliche Züge annahmen, so entstanden in den großen Streiks ab dem Frühjahr 1919 neue räteähnliche Organe wie z.B. in den "Aktionsausschüssen des geeinigten Proletariats" und den Streikleitungen. USPD und KPD propagierten nun Rätetheorien, der die Rätepraxis immer weniger entsprach. Diese Parteien allein wollten Räte als Alternative zum Parlamentarismus, die Räte selbst in der Region sahen sich immer nur als kontrollierende, bestenfalls intervenierende Ergänzungen zu parlamentarischen Gremien.
Um die Gründe für die vielfältigen Organisationsformen und unterschiedlichen Aktivitäten der Räte klären zu können, wären genauere Untersuchungen der Wirtschafts-, Industrie- und Firmenstrukturen, der Sozialstruktur der einzelnen Städte, der kommunalen Führungsgruppen, der Organisationen der Arbeiterbewegung, sowie der Biographien der Rätemitglieder notwendig, als sie hier möglich waren253. Eine Korrelation zwischen Industrialisierungsgrad, Größe der Arbeiterschaft, Stärke der Arbeiterbewegung und Bedeutung der Räte lässt sich noch für Friedrichshafen und mit Einschränkungen für Ravensburg erkennen, in den meisten anderen Fällen sind spezifische Determinanten anzunehmen. Aktivitäten und Richtung der einzelnen Räte scheinen stark von einzelnen Führerpersönlichkeiten abhängig gewesen zu sein. So spielte der SPD-Parteisekretär und Arbeiterratsvorsitzende von Ravensburg, Karl Ruggaber, im November/Dezember 1918 eine wichtige Rolle, bis er Ende 1918 wieder das Parteisekretariat in Ulm besetzen musste. Er hat in dieser Phase offenbar auch die Versuche der Friedrichshafener USPD-Führer abgewehrt, in Oberschwaben Einfluss zu gewinnen. Jakob Braun und Ludwig Reinhardt in Friedrichshafen, später Matthiesen in Ravensburg, Karl Ott in Biberach, Kinzelbach in Saulgau haben die Politik ihrer Räte maßgeblich bestimmt, ebenso wie die Untätigkeit der übrigen Räte von ihren Vorsitzenden gewollt war.
Bei dem stark durch lokale Gegebenheiten bedingten disparaten Erscheinungsbild der Räte in Oberschwaben wird es auch nicht verwundern, dass es nie zu regionalen Kontaktaufnahmen und einem Informationsaustausch zwischen den Räten in Oberschwaben gekommen ist (eher noch bei den Bauernräten). Die Verbindung wurde nach Stuttgart zum Landesausschuss der Räte gesucht, aber nicht untereinander in der Region.
Revolutionen und Revolten werden in der Regel von Gegeneliten geführt, die nach dem Sieg in die (neu) etablierten Institutionen überwechseln. Die "Fluten einer Revolution (spülen) des öfteren Talente aus der Tiefe an die Oberfläche ... und (räumen) die Hindernisse für deren vollen Entfaltung aus dem Weg"254. Viele der führenden Arbeiterräte haben sich vorher in Organisationen der Arbeiterbewegung engagiert. Etlichen gelang der Sprung in die Gemeinderäte. Die bleibende Hegemonie des Bürgertums verhinderte weitere „Entfaltung“. Karl Ruggaber starb an den Folgen der KZ-Haft.
Die Bauernräte wurden von allen Interessenten als Instrumente benutzt, von den Bauernführern, um die Macht ihrer Verbände auszubauen, von der Regierungspolitik und einigen Arbeiterräten, um die Lebensmittelversorgung zu sichern. Bauernräte und Bürgerräte erwiesen sich rasch als überflüssig, da bäuerliche und bürgerliche Organisationen genügend Möglichkeiten der Interessenvertretung boten.
Die Soldatenräte strebten schon früher als die Arbeiterräte eine Institutionalisierung auf Dauer an, um die Demokratisierung des Militärs zu gewährleisten. Ihnen wurde durch die Auflösung der alten Truppenverbände die Basis entzogen. Gegen den entschiedenen Willen der SPD-geführten Reichsregierung zu einer restaurativen Militärpolitik im Bündnis mit dem alten Offizierskorps war die württembergische Volkswehr-Konzeption nicht durchzusetzen.
Wenn man die Revolution von 1918/19 im Zusammenhang der großen sozialen Bewegung in der Region sieht: 1525, 1848, 1918, 1968 ff., so haben zwar immer wirtschaftliche Motive eine Rolle gespielt, aber Grundmotiv war immer eher ein "Kampf um Anerkennung"255, um mehr Mitsprachemöglichkeiten, um mehr Demokratie, 1525 der Bauern, 1848 vor allem der Bürger, aber auch wieder der Bauern, 1918 der Arbeiter, 1968 der Jugend256. Mehr Demokratie heißt mehr Pluralität. Und gerade das wollten einander beide Seiten 1918 ff. nicht zugestehen, die Bürger und Bauern in der Region wollten nicht einmal einen Anteil an der Macht abtreten, die radikalen Arbeiter in ihrer Zukunftsgewissheit beanspruchten die ganze Macht als Exekutoren einer Geschichtsteleologie, in der Bürger und Bauern keinen Platz mehr hatten. Im Kampf um die Macht wurde der Gegner von beiden Seiten zum Feind erklärt und damit der Minimalkonsens aufgekündigt, dessen die Demokratie bedarf. Heute wird eine Geschichtsteleologie propagiert, in der die sozialen Errungenschaften gerade der Weimarer Arbeiterbewegung, die im Klassenkompromiss der letzten Nachkriegszeit neu fixiert wurden, als Ballast abgewertet werden, der im weltweiten Kampf um Standortvorteile abgeworfen werden müsse. Diese Teleologie mobilisiert heute nicht mehr, sie kann auf Apathie zählen.
1525 und mit Einschränkungen 1848 haben ihren Platz in der Tradition, im Geschichtsbewusstsein Oberschwabens gefunden, 1918/19 nicht. Die Novemberrevolution passt heute weniger denn je in historische Legitimationsbilder. Sie ist für niemanden Sieger-Geschichte. Wenn Tradition einer demokratischen Gesellschaft aber gerade Erinnerung an jene Bewegungen heißen muss, die sich dem aufgeherrschten Lauf der Geschichte entgegenstemmten, wenn Geschichte als dauernde Auseinandersetzung um Verbesserungen, um Anerkennung und Gerechtigkeit begriffen wird, wird auch 1918/19 in das regionale Geschichtsbild aufgenommen werden müssen, mit den blinden und dunklen Stellen, denn wir "lernen ja eher aus negativen Erfahrungen, eben aus Enttäuschungen, die wir in Zukunft zu vermeiden suchen"257.
Der Frühe-Neuzeit-Historiker Peter Blickle sieht im "Republikanismus" einen Grundzug oberschwäbischer Geschichte258. Die erste deutsche und württembergische Republik haben oberschwäbische Arbeiter mit erkämpft, ihre Partei und ihre Mitbürger haben verhindert, dass diese Republik besser fundiert wurde.
Veröffentlicht in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 56, 1997, S. 241-317.