„Von der Grenze Bayerns an, bis an die Spitze von Elsaß ist alles Schwaben. Man nennt den Teil, welcher zwischen dem Herzogtum Württemberg und dem Bodensee liegt, das obere Schwaben. Er bestehet aus tausend kleinen Völkern, wovon jedes seinen eigenen Herrn hat und die in ihrer Kleidertracht, in ihren Gesetzen, in der Religion und in der Sprache ebenso verschieden sind, als in ihren Regierungsformen. [...]
Es gibt kein Volk auf dem Erdboden, so von seiner Gesetzeinrichtung und von der politischen und physikalischen Eigenschaft seines Vaterlandes weniger unterrichtet ist, als die Oberschwaben. Sie wissen sehr wenig, ob der Staat ein gemeinschaftliches Oberhaupt hat, oder ob er vom Ungefähr regiert wird. Sie würden den Namen des Landesherrn nicht kennen, wenn sie ihn nicht zuweilen an der Spitze der Steuerpatente nennen hörten. Zur Unterdrückung geboren, erhebt sich ihr Geist, welcher durch das Elend in der Unwissenheit, und durch die Unwissenheit im Elende erhalten wird, nicht von der Erde.“1.
Wilhelm Ludwig Wekherlin, der sich hinter dem Pseudonym Anselmus Rabiosus verbirgt, beschreibt Oberschwaben als eine Region mit spezifischen Strukturmerkmalen, die sie von den umgebenden Räumen unterscheiden. In seinen harschen Urteilen über die ignoranten, aber sinnenfreudigen Oberschwaben findet der protestantische Aufklärer in Altwürttemberg noch viele Nachfolger bis in dieses Jahrhundert, bis ‚Rückständigkeit‛ nicht mehr verachtet, sondern sehnsüchtig aufgesucht wird2. Als wesentliche Merkmale nennt Wekherlin die politische Zersplitterung, die Vielfalt politischer Verfassungen, kleinstaatlichen Despotismus auf der einen, unwissende Untertanenmentalität auf der anderen Seite, in weiteren hier nicht zitierten Passagen Armut und ungezügelte Sexualität. Bis heute glauben Landeskundler, Historiker und Schriftsteller Oberschwaben als eigenständige Region identifizieren zu können und argumentieren mit Hinweisen auf Naturlandschaft, Siedlungsgeographie, Agrar- und gewerbliche Wirtschaftsstruktur, Kunst, Konfession, Mentalität und vor allem Geschichte3. Objektivierend werden Regionen entweder nach gemeinsamen Strukturen (Homogenitätsprinzip) oder als Funktionsräume nach internen Verflechtungen (Interdependenzprinzip) bestimmt4. Überwiegend und für die Zeit vor 1800 dominierend wird Oberschwaben als eigenständige Region ex post mittels objektivistischer Kriterien definiert.
Bleiben Strukturen über Jahrhunderte relativ stabil oder bleiben im Wandel zumindest die Differenzen zu den Nachbarräumen bzw. der funktionale Zusammenhang innerhalb der Region erhalten, sprechen Historiker von einer ‚Geschichtslandschaft‛5. Dass Oberschwaben eine sei, haben Historiker nie bezweifelt, stets postuliert, wenig erforscht, immer aber haben sie die entscheidende Zäsur um 1800 hervorgehoben. Je nachdem, in welchem Verhältnis ‚objektive‛ Struktur, politische Gestaltungsmöglichkeiten und subjektives Bewusstsein der ‚Eigenart‛ gewichtet werden, wird Oberschwaben ein deutlicheres regionales Profil in der Epoche vor 1800 oder in der Zeit nach 1800 zugeschrieben. Peter Blickle wendet die Charakteristika Wekherlins ins Positive. Für ihn ist Oberschwaben zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert geprägt durch „Vielfalt des Politischen“, „Kleinräumigkeit des Politischen“ und daraus resultierender „Kreativität, dem Experimentieren mit neuen Formen des Politischen“. Und im Gegensatz zum Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts spürt er auch einen „Hauch von republikanischem Geist“6. Mit dem eigenen Gestaltungsspielraum der „politischen Landschaft“ ist es nach Blickle 1803 zu Ende. Für Klaus Schreiner und Hans Georg Wehling entsteht dagegen eine eigene Identität erst „in und gegen Württemberg auf der Grundlage zweier politischer Kulturen“7.
‚Politische‛ Kultur wird als die Summe der politischen Meinungen, Einstellungen und Werte einer Bevölkerung, als ihre „geistig-seelisch-moralische Verfassung“ verstanden8. Sie ist die Folge einer spezifischen Faktorenkonstellation. Vier spezifische Einflussfaktoren, Kirche, Adel, Bauern und Reichsstädte, begründen nach Wehling die spezifische regionale Kultur Oberschwabens, die sich wesentlich von der durch das protestantische Altwürttemberg bestimmten, im Gesamtstaat ‚hegemonialen politischen Kultur‛ unterschied. Mit dem Konzept der politischen Kultur wird die Grenze zur subjektivistischen Bestimmung einer Region überschritten, wenn die Region von der Bevölkerung als räumliche Einheit erfahren wird.
Je deutlicher sich eine regionale politische Kultur ausprägt, desto eher ist auch ein Regionalbewusstsein, das Bewusstsein einer auf einem bestimmten Raum bezogenen Eigenart, ‚regionale Identität‛, zu erwarten9. Durch die Identifizierung mit der Region wird die regionale Identität zum konstitutiven Teil der eigenen persönlichen Identität. Das Bewusstsein der Eigenart wird, wie in Württemberg geschehen, durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Werte oft erst mobilisiert. Abwehr gegen zentralistische Maßnahmen oder der Eindruck der Vernachlässigung durch die Zentrale können Regionalbewusstsein mobilisieren und zu regionalen oder ‚regionalistischen Bewegungen‛ motivieren, zu politischem Handeln im regionalen Rahmen bis hin zum Versuch eigenständiger politischer Organisierung10. Der Rang, den die regionale Ebene und die verschiedenen räumlichen Handlungs- und Identifikationsräume einnehmen, vom Heimatort bis zur Weltgesellschaft, kann sehr verschieden bestimmt werden. Für Regionalbewusstsein, eine regionalistische Bewegung, kann die gegebene politische Einheit den Rahmen abstecken, aber eine regionalistische Bewegung kann auch versuchen, eine politische Einheit erst zu schaffen. Träger des Regionalbewusstseins und einer regionalistischen Bewegung können ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sein. Ihre politischen Zielmodelle können durchaus in Raumvorstellungen, Autonomiegrad und angestrebten Gesellschaftsstrukturen divergieren.
Historiker konzedieren zwar, dass Oberschwaben nach Strukturmerkmalen und Konstanten des politischen Handelns als Region identifiziert werden kann, sprechen aber seinen Bewohnern vor 1800 ein regionales Bewusstsein ab. Sie können sich darauf berufen, dass es nur wenige explizite schriftliche Artikulationen eines solchen räumlichen Bewusstseins gibt. Wir haben zwar viele Urteile von außen über Oberschwaben, aber vergleichsweise wenig Zeugnisse für das regionale Selbstbewusstsein. Aber schon die Landesbeschreibung des 19. Jahrhunderts stellte fest, dass „der Sinn für die Regionen des abstrakten Denkens“ in Oberschwaben weniger entwickelt sei11. Deshalb gilt es, weitere Indikatoren zu finden und nach Organisierungsversuchen im regionalen Rahmen zu suchen, die als Kristallisationen von Raumbewusstsein aufgefasst werden können. Dass Oberschwaben nie einen Staat, ein Land im verfassungsrechtlichen Sinne bildete, ist bekannt. Wenn schon die „staatenbildende Kraft der Alemannen [...] nie sehr groß“ war12, dann hat sich diese „Kraft“ in Oberschwaben noch weniger geregt. Vorpolitische und herrschaftsübergreifende räumliche organisatorische Strukturen werden als Ergebnisse verdichteter raumbezogener Kommunikation aufgefasst, bilden selbst einen räumlichen Rahmen für verdichtete Kommunikation und verdichten sie dadurch weiter. „Kommunikation konstituiert über Beziehungsgefüge historisch-relevante Räume, wenn ihre nach innen gerichtete Interaktion deutlich dichter ausfällt als die nach außen gerichtete“13. In der Überlagerung verschiedener Organisationsräume zeichnet sich die Region als Kommunikations- und Interaktionsraum mit seinen (ggf. unscharfen) Grenzen und Teilräumen ab. Über die wenigen Dokumente eines „Eigen-Diskurses“14, die Kommunikations- und Organisationsräume, soll die Region als Bewusstseinsregion und in Ansätzen als politischer Handlungsraum identifiziert werden. Ich frage also nicht wie die meisten bisherigen Autoren nach den spezifischen natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Strukturmerkmalen, nach denen aus heutiger Sicht Oberschwaben als Region identifiziert werden kann, sondern nach angestrebten und realisierten regionalen Organisationsformen, in denen sich Regionalbewusstsein artikuliert.