Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


Die Revolution

In Ravensburg soll schon am 17. August 1918 eine Ortsgruppe der USPD gegründet worden sein. Am 26. Oktober fährt eine Gruppe der Friedrichshafener Demonstranten nach Ravensburg. 50 junge Arbeiter und Arbeiterinnen veranstalten einen Umzug und rufen "Hoch die Republik", ein Redner bekundet den "Friedenswunsch"73. Am 3. November spricht Arthur Crispien als Kandidat einer Nachwahl zum württembergischen Landtag, später USPD- und SPD-Vorsitzender im Reich, in einer Versammlung unter Leitung des Friedrichshafeners Jakob Braun. Crispien hält sich an Auflagen des Oberamts, macht aber "von seiner republikanischen Gesinnung keinen Hehl"74. Als Soldaten der Weingartner Garnison am 6./7. November in Friedrichshafen eingesetzt werden sollen, sprechen sie sich bereits ab, nicht zu schießen. Am 9. November erfährt die Garnison in Ravensburg von den Vorgängen in Stuttgart, worauf sich sofort ein Soldatenrat konstituiert. In Weingarten erwartet die große Garnison um so gespannter, was vorgeht, da den Soldaten verboten wird, die Kaserne zu verlassen. Am Sonntagfrüh, den 10. November, treffen Mitglieder des Stuttgarter Arbeiter- und Soldatenrats in Ravensburg ein, welche die "seitherigen behördlichen und militärischen Stellen von dem Umschwung der Lage in Kenntnis setzten und ihm eröffneten, dass die ... Gewalt nun auf die neue Volksregierung übergegangen sei, die darauf rechne, dass die Behörden auch weiterhin ... zum Wohle des Volkes walten würden". Ein für Ravensburg und Weingarten gemeinsamer Arbeiter- und Soldatenrat bildet sich. Parteien und Gewerkschaften laden auf den Nachmittag zu einer Volksversammlung ein. Redner "machen auf die Bedeutung der Stunde aufmerksam", kritisieren ansonsten nur die "Unterjochung durch die Kapitalistenclique der Entente". Anschließend ziehen die Demonstranten nach Weingarten, wo eine gleiche Versammlung stattfindet. Die dortige Garnison ist um die Mittagszeit durch Telegramme aus Stuttgart über die Ausrufung der Republik informiert worden und wählt daraufhin ebenfalls einen vorläufigen Soldatenrat. Die Proklamation des Arbeiter- und Soldatenrats am 11. November an die "Arbeiterschaft, Mitbürger, Landwirte und Soldaten von Ravensburg-Weingarten" fällt dürr aus: "Eine gewaltige, aber glücklicherweise unblutige Revolution hat sich vollzogen. Die Republik ist erklärt. Die alten Gewalten treten ab und das Volk übernimmt die politische Macht". Als einzige Programmatik stellt sich der Rat "rückhaltlos auf dem Boden des Programms der in Stuttgart gebildeten Volksregierung"75. Dieses Programm beschränkt sich zu diesem Zeitpunkt einzig auf die Ankündigung "umfassender sozialer Reformen"76. Obwohl absehbar ist, dass der württembergische Landtag in seiner bisherigen Zusammensetzung nicht mehr zusammentreten wird, besteht die Regierung darauf, eine bereits vor der Revolution auf 14. November terminierte Landtagsnachwahl im Oberamtsbezirk Ravensburg durchzuführen. Wenige Tage nach der Revolution gilt die Wahl in Ravensburg als Test für die Stimmung der Bevölkerung. Der Arbeiterratsvorsitzende und langjährige SPD-Parteisekretär für Oberschwaben Karl Ruggaber tritt als gemeinsamer Kandidat der beiden Arbeiterparteien gegen den Zentrums-Kandidaten an. Das Ergebnis enttäuscht die Revolutionsanhänger, ermutigt das Bürgertum: Das Zentrum hat immer noch fast 80 % der Wähler im Oberamt hinter sich, nur 5 % weniger als 1912, in Ravensburg erreicht der SPD-Kandidat immerhin ein Drittel, in Weingarten und Baienfurt kommt er bis auf 6 % an das Zentrum heran. Die Zeitung jubelt: "Die roten Revolutionsbäume wachsen nicht in den Himmel"77.

Früh scheint sich die Revolution auch im ländlichen Allgäu geregt zu haben. Am Abend des 6. November findet in der Garnison in Isny eine Soldatenversammlung statt. Am 8. November erfährt man dort von den Vorgängen in Kiel und München und wählt Vertrauensleute. Durch "verständnisvolles Eingehen auf die Forderung der Mannschaften" kommt am Abend des 9. November ein Soldatenrat zustande, der "aus einer Anzahl reifer, gebildeter und verständiger Männer" besteht, an der Spitze Leutnant Hahn, der spätere Kommandant der württembergischen Sicherheitstruppen. Der Rat teilt der Stadtverwaltung Isny mit, dass er "die vollziehende Gewalt an sich genommen habe und dass die seitherigen Regierungsorgane ihr Amt unverändert weiterzuführen hätten unter Kontrolle der Soldatenräte"78. Am Tage drauf, am 10. November, wird in Leutkirch ein Soldatenrat gewählt, in einer abendlichen Volksversammlung, in der der Zentrums-Landtagsabgeordnete referiert, konstituiert sich ein Arbeiterrat.

In Wangen laden SPD und freie Gewerkschaften zu einer Versammlung unter freiem Himmel am 11. November ein79, doch der auswärtige Redner bleibt aus. Am nächsten Tag wird der Arbeiter- und Soldatenrat gewählt in Anwesenheit von Vertretern des Friedrichshafener Rates. Diese können noch einen Vortrag halten über die Ziele des Sozialismus, werden dann aber von den Zentrumsanhängern ausgebootet.

Der Arbeiter- und Soldatenrat Biberach tritt am Montag, den 11. November, an die Öffentlichkeit, eine Versammlung auf Einladung der SPD findet dort erst am 14. November statt. In Waldsee bildet sich ein Arbeiterrat am 15. November auf Initiative des Ravensburger Rates, dessen Vorsitzender, der SPD-Parteisekretär, am 19. November auf einer großen Volksversammlung spricht. Auch die Saulgauer Gründung am 16. November erfolgt auf Veranlassung des Ravensburger Rats und wird eingeleitet durch eine Rede Ruggabers. Ebenfalls wohl auf die SPD geht in Laupheim die Bildung des Arbeiterrats zurück. In Riedlingen lädt auf 20. November der Katholische Arbeiterverein zur Wahlversammlung für den Arbeiterrat ein, der sich dann "Volksrat" nennt. Den Schluss bildet eine Volksversammlung in Ehingen erst im Dezember, zu der wieder die SPD auffordert; die Wahl des Arbeiterrats scheitert aber zunächst und kann erst am nächsten Tag, am 14. Dezember, auf einer Versammlung mit breiterer Beteiligung stattfinden.

USPD-Einfluss ist noch in Ravensburg wirksam, doch setzt sich dort der SPD-Parteisekretär entschlossen an die Spitze. Auch in Wangen werden die Friedrichshafener Vorstöße zurückgewiesen, dort wird das Zentrum aktiv, ebenso wie im benachbarten Leutkirch, wo aber wie in Isny zunächst die Soldaten handeln. Auf die Initiative der SPD gehen die Ratsgründungen zurück in Biberach, Laupheim, Waldsee, Saulgau, Ehingen, in den drei letzten Städten ist der Ravensburger Ratsvorsitzende und Parteisekretär Ruggaber beteiligt. Wiederum vom Zentrum dominiert ist die zweitletzte Gründung in Riedlingen, in Waldsee tritt der Vorsitzende später als Vorsitzender der DDP auf.

Unter freiem Himmel findet nach Friedrichshafen und Ravensburg nur noch die missglückte Versammlung in Wangen am 11. November statt. In Waldsee will man eigentlich von "einem Demonstrationszug Abstand" nehmen. Doch wird dort dann doch "ein kleiner Demonstrationszug durch die Stadt ... von wenigen, meist jüngeren Leuten, in Szene gesetzt"80. Die Biberacher Räte beschließen noch am 11. November, "von jedem Umzug und jeder Demonstration Abstand zu nehmen"81. Abgesehen von Friedrichshafen, auch wohl von den Soldaten in Isny und den Ravensburger Rüstungsarbeitern und Soldaten, ist nichts von einer spontanen, eruptiven Bewegung zu spüren. Die Versammlungen und Rätegründungen sind keine Aktion "von unten", sondern Reaktionen von Organisationen, von seiten der SPD, um Institutionen zu besetzen, die die eigenen Wirkungsmöglichkeiten vergrößern, oder präventiv von seiten des Zentrums, um eben diese Wirkungsmöglichkeiten zu blockieren. In der Hälfte der Städte lässt man sich dazu eine Woche und mehr Zeit, in Ehingen einen Monat.

Die Mehrheit der Bevölkerung in den oberschwäbischen Kleinstädten und Landgemeinden hat die Änderung der Staatsform über sich ergehen lassen, erschreckt, kurz furchtsam, nicht begeistert, bald verärgert und aggressiv. In Riedlingen scheint es noch am 12. November "selbstverständlich, dass die bürgerlichen Parteien mit allem Nachdruck den äußersten Kampf um die Aufrechterhaltung der monarchischen Staatsform führen werden"82. Zwei Tage später stellt der Redakteur immer noch fest: "das neue Regiment passt uns wahrhaftig nicht", aber rät jetzt taktisch: "Wir müssen jetzt alle unsere Kräfte der neuen Regierung zur Verfügung stellen, ... weil sie den festen Willen hat, den Bolschewismus niederzuhalten"83. Im Allgäu fasst es der "Allgäuer Volksfreund" noch kaum: "Für das vom Krieg und von sozialistischen Ideen wenig berührte Allgäu, wo die Achtung vor der Autorität im Zusammenhang mit Religion und Sitte noch tiefe Wurzeln hat, war die neue Bewegung im Reich selbstverständlich etwas Ungewohntes, Seltsames, und nur schwer vermag sich der Allgäuer in die neue Republik mit ihrer Volkssouveränität ohne König und Kaiser hineinzudenken und einzufügen. Es ist ihm wie ein Traum ... Die Bewegung kam zu überraschend und zu schnell"84. Bürger und Bauern erwachen rasch aus ihrem Alptraum und zerstören die Träume derer, die auf revolutionäre Änderung hoffen.

Sie nehmen sie hin, auch wenn sie ihnen in die Augen gestochen haben müssen, die roten Fahnen über den oberschwäbischen Städten. Sie wehen "lustig im Herbstwind"85, nicht zur Freude, sondern "zum Schrecken und Ärger der Bürgerschaft"86, wohl zuerst in Ravensburg vom Blaserturm und in Friedrichshafen vom Schloss und vom Rathaus, am 11. November in Leutkirch vom Boxturm, in Wangen am 14. November, in Waldsee am 15. November, in Saulgau am 20. November jeweils von den Rathäusern. Über die anderen Städte schweigen sich die Zeitungen aus. Das Organ der Räte triumphiert: "von den Zinnen des (ehemaligen königlichen!) Schlosses weht das Banner der Revolution und grüßt über die blauen Wogen des Schwäbischen Meeres"87. In Leutkirch wird erklärt: "zum Zeichen des Sieges der neuen Bewegung"88. In Saulgau entschuldigt sich die Stadtverwaltung in einer Anzeige mit einer Anordnung des Arbeiter-, Soldaten- und Bauern-Rates. Aber schon am 3. Dezember fängt man sich in Wangen wieder, und beschließt der Arbeiterrat (!) einstimmig, die roten Fahnen wieder einzuziehen. In Ravensburg wird das Symbol der Arbeiterbewegung energisch verteidigt; als Übermütige in den Weihnachtstagen den Blaserturm besteigen und die roten Fahnen herunterholen, werden die Verdächtigen tüchtig verdroschen, und wird die Fahne alsbald wieder hochgezogen. In Weingarten gibt es Ärger mit Offizieren, die sich mit den roten Fahnen nicht abfinden können und sich z.B. weigern, in die Kasernen einzuziehen, wenn die Fahnen nicht eingeholt wurden. Dort bleiben die Fahnen oben.

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