Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


Rote Fahnen über Oberschwaben

Vielfach wird die Malaise deutscher Demokratie damit begründet, dass die Deutschen in ihrer Geschichte nicht auf eine erfolgreiche Revolution zurückblicken können. Eine solche Behauptung zementiert die beklagte Folge, denn sie ist falsch. Weitet man die Kriterien für eine Revolution nicht so weit aus, dass gar keine mehr übrigbleibt,1stimmen die Historiker und erst recht die damaligen Zeitgenossen darin überein, dass in Deutschland im November 1918 eine Revolution stattgefunden hat. Darüber hinaus gibt es keinen Konsens: über Erfolg, Erfolgsaussichten, Erfolgswünsche, Verantwortlichkeiten, Folgen. "Die einen hatten überhaupt keine Revolution, die anderen ein wesentlich anderes Ergebnis der Revolution gewollt"2.Viele, die sich mit der Revolution identifizierten, lehnten die daraus entstandene Republik ab, viele, die sich mit der Republik identifizierten, lehnten ihre Entstehung aus der Revolution ab. Das Scheitern der Republik erschwerte, dass die Revolution, die die erste Deutsche Republik gebracht hatte, als positiver Kernbestand demokratischer Tradition in der zweiten Republik gewertet wurde.

Aber nicht nur die Meinungen der Zeitgenossen liefen diametral auseinander, auch die Forschungsgeschichte3 bezeugt, wie sehr die Urteile der Historiker über die Revolution von politischen Konjunkturen und Standorten bestimmt wurden und werden. Nach den eifrigen Forschungen und Kontroversen der 60er und 70er Jahre ist es in der Geschichtswissenschaft ruhig um 1918/19 geworden. Die "Revolution" 1989 hat zusätzlich dazu beigetragen, das Rahmenthema Arbeiterbewegung ins wissenschaftliche Abseits zu drängen. Die konträren wissenschaftlichen Positionen zur Revolution haben sich eingeigelt. "Es kann kein verbindliches, allseits akzeptiertes und gesichertes Bild der deutschen Revolution entworfen werden"4 .

Bewegung in die wissenschaftliche Bewertung der Revolution brachte in den 60er Jahren die Rezeption zahlreicher Lokal- und Regionalstudien. Nicht eine bloße Alternative "soziale Revolution oder konservative parlamentarische Republik" hätte Ende 1918 bestanden, sondern eine breite demokratische Volksbewegung hätte der Regierung einen wesentlich größeren Handlungsspielraum eröffnet. Die Welle der Revolutionsforschung der 60er und 70er Jahre hat Oberschwaben nicht erreicht. Die Brandung endete in Stuttgart und München, der Bodensee blieb ganz stilles Gewässer. In den Lokalgeschichten war nur von den schweren Jahren des Weltkriegs und der Inflation die Rede, die Revolution gab es nur in den Hauptstädten. Gefallenenlisten waren allemal wichtiger als Räte. Das hat sich erst in den späten 80er Jahren geändert. Nun erfährt man auch aus den größeren neueren Stadtgeschichten wie Biberach, Friedrichshafen, Weingarten und den badischen Nachbarstädten Konstanz und Singen5etwas über die politischen Vorgänge dieser Jahre. Bestandteil des regionalen oder lokalen Geschichtsbildes ist die Revolution freilich nicht geworden, in den neueren Gesamtdarstellungen Oberschwabens findet die Revolution immer noch nicht statt6.

Eine Ausnahme bildet Friedrichshafen. Schon die ältere Literatur zur Revolution in Württemberg7 behandelte die Ereignisse in Friedrichshafen im allgemeinen ausführlicher. Paul Hahn, der Kommandant der württembergischen Sicherheitstruppen 1919, zählte in seinen Erinnerungen Friedrichshafen neben Stuttgart, Kiel und München als "Hochburgen des revolutionären Vortrupps" auf8.Und Eberhard Kolb, der Klassiker der neueren Räteforschung, sprach dem Revolutionsverlauf in Stuttgart und Friedrichshafen einen "Modellcharakter für die Aussichten eines linksradikalen Umsturzversuchs" zu9. Überspitzt könnte man sagen, die deutsche Novemberrevolution begann in Friedrichshafen, denn hier setzten die Demonstrationen mit revolutionären Forderungen am frühesten ein, wenn man vom Bodensee aus freilich keine Regierung stürzen konnte.

So zeichnen sich schon nach oberflächlichen Lektüren deutliche Unterschiede im Revolutionsverlauf innerhalb Oberschwabens ab, entsprechend dem unterschiedlichen Industrialisierungsgrad der einzelnen Städte und Teilregionen. Ich frage im folgenden, was kann Revolution in Oberschwaben überhaupt heißen, wie setzt sie sich durch, woher kommen die Anstöße, sind Programme erkennbar, wie verhalten sich Kleinbürger und Bauern, welche Widerstände artikulieren sich, welche Änderungen werden durchgesetzt? Zunächst werden paradigmatisch die Vorgänge in Friedrichshafen geschildert, es folgt ein Überblick über das übrige Oberschwaben, die verschiedenen Rätetypen werden vorgestellt und am Schluss ein Resümee versucht. Ich muss mich auf die Anfänge der Revolution und die Rolle der Räte konzentrieren, die Bewegungen über das Jahr 1919 hinaus kann ich nur andeuten. Die Kenntnis der üblichen Periodisierung, der wesentlichen Ereignisse auf Reichs- und Landesebene sowie der kontroversen Urteilspositionen setze ich voraus. Es sei erinnert an die übliche Phasengliederung10:

  • die Zeit der Hoffnungen vor der Revolution,

  • die Zeit der Entscheidungen, der demokratischen Volksbewegung im November/Dezember 1918,

  • die Zeit der Enttäuschungen mit der Radikalisierung im Januar bis Mai 1919 und der dritten Revolutionsphase bis zum Frühjahr 1920

  • und schließlich die unruhigen Jahre der Inflationszeit bis Ende 1923.

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