Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


 

Die Arbeiterräte

Hinterher weiß man nicht mehr, wie sie zu ihrem Amt gekommen sind, gewählt worden seien sie nicht, "mit der Revolution waren sie einfach da"89. Wo die sozialdemokratische Arbeiterbewegung relativ stark ist, bewährte Parteifunktionäre mit politischer Erfahrung wirkten, nehmen diese die Bildung der Arbeiterräte in die Hand, bezeichnen sich selbst als solche, suchen Mitstreiter, präsentieren sich einer öffentlichen Versammlung in den ersten Revolutionstagen und lassen sich von ihr bestätigen. So ist es in Friedrichshafen, wie auch in Ravensburg. Hier haben die beiden Arbeiterparteien und die Gewerkschaften die Zusammensetzung des Rats ausgehandelt. In beiden Orten finden in den nächsten Wochen Nachwahlen statt, in Friedrichshafen von Angestellten, Beamten und Vertretern der Landgemeinden, in Ravensburg in den beiden Großfirmen Escher-Wyss und Papierfabrik Baienfurt sowie der christlichen Gewerkschaften und der Angestelltenverbände, nicht aber in den Landgemeinden. In Biberach spricht der Vorsitzende mit den Berufsorganisationen die Zusammensetzung ab: mit den konfessionellen Arbeitervereinen, den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, dem Gewerbeverein, den kaufmännischen Verbänden, und fordert die "geistigen Arbeiter", Beamte und Bauern auf, Delegierte zu entsenden. In diesen drei größten Städten Oberschwabens ergreifen die linken Arbeiterführer die Initiative. In Saulgau, Ehingen und Waldsee organisieren der Arbeiter- und Soldatenrat Ravensburg, in Wangen wohl der Arbeiter- und Soldatenrat Friedrichshafen die Wahlversammlungen. In beiden letzten Städten nehmen die Versammlungen aber einen anderen als den geplanten Verlauf, örtliche selbständige Honoratioren gewinnen die Mehrheit für sich und werden zu Vorsitzenden des Arbeiterrats gewählt. In beiden Fällen finden ebenfalls noch Zuwahlen statt, in Waldsee in Volksversammlungen gewählte Vertreter Aulendorfs und Schussenrieds und Delegierte, also indirekt gewählte Vertreter des Arbeiter- und Bauernrats Wolfeggs, in Wangen wählen die Arbeiter dreier größerer Fabriken und im Dezember heimgekehrte Soldaten in Versammlungen in geheimer Abstimmung zusätzliche Vertreter in den Arbeiterrat. In Saulgau wird der von Ravensburg her veranlasst Arbeiterrat in einer Volksversammlung bestätigt, durch Zuwahlen in den Bezirksgemeinden erweiterte er sich zu einer Vertretung aller Berufsgruppen und der Gemeinden. In zwei von den drei Städten bzw. Bezirken, in denen die Initiative zunächst von außen kam (Waldsee, Wangen), setzen sich dann aber doch die örtlich herrschenden politischen Kräfte durch, während in Saulgau der Vorsitzende, bezeichnenderweise ein Amtsgerichtssekretär, also ein bürgerlich reputabler Mann, sich trotz seiner Sympathien für die SPD behaupten kann. In Ehingen scheitert der erst spät am 13. Dezember unternommene Versuch, in einer SPD-Versammlung einen Arbeiterrat zu wählen, und gelingt erst am Tag danach in einer Versammlung, zu der auch die bürgerlichen Organisationen mobilisiert hatten. Dort haben sich offenbar dennoch mehrheitlich SPD-Anhänger durchgesetzt, doch wird der Rat auf Dauer in der kleinen Landstadt von seinen Gegnern blockiert und beschränkt sich auf eine rein örtliche Interessenvertretung. In Leutkirch und Riedlingen ergreifen von vornherein örtliche, kirchlich orientierte Organisationen die Initiative, in Leutkirch noch am 10. November in einer Volksversammlung der Zentrums-Landtagsabgeordnete und Sekretär der Christlichen Gewerkschaften, in Riedlingen lädt der Katholische Arbeiterverein zur Wahlversammlung ein. Über Laupheim ist nur bekannt, dass sich dort ein wohl SPD-naher Arbeiterrat "konstituiert" hat.

Das vom Arbeiterrat Groß-Stuttgart bereits am 12. November vorgeschlagene, überkomplizierte und die Größenunterschiede der Gemeinden missachtende Wahlverfahren90wird überhaupt nur in Leutkirch beachtet und für Neuwahlen Anfang Dezember propagiert. Die unklaren, sehr unterschiedlichen Wahlverfahren ermöglichen nicht nur Stadt- und Bezirksverwaltungen immer wieder, Legalität und Legitimität der Räte anzuzweifeln, sondern provozieren auch die Kritik der Arbeiterschaft an der Zusammensetzung und Tätigkeit. Die Gegner der Arbeiterräte werfen ihnen sofort "einseitige" Zusammensetzung, Ausschluss des Mittelstands, Benachteiligung der christlich organisierten Arbeiter vor. Später protestieren gegen die zentrumsdominierten Räte in Leutkirch und Wangen die Sozialdemokratie und Gewerkschaften: "Der Arbeiterrat ist zu einer Zeit gewählt worden, wo unsere Genossen noch alle im Felde waren ... Eine freigewerkschaftliche Liste konnte also nicht aufgestellt werden"91. Anträge auf Neuwahlen in Ehingen, Leutkirch und Wangen lehnt der Landesausschuss der Arbeiterräte jedoch ab, der an einer besseren Fundierung der Räte kein Interesse hat. Nur in Ehingen bemüht er sich um eine Neubildung des Arbeiterrats anstatt des Volksrates, scheitert dort aber. In Saulgau kommt es im April zu Neuwahlen ohne Rückfrage in Stuttgart. Ende 1919 wenden sich die christlichen Gewerkschaften in Weingarten gegen die Weiterexistenz des Arbeiterrats, in Biberach christlich orientierte Arbeiter gemeinsam mit Kommunisten und linker SPD.

Unterscheiden sich schon die Entstehungsbedingungen sehr, so divergieren die Organisationsformen noch mehr. Der Friedrichshafener Struktur mit einer großen Vollversammlung, in der die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter Einbezug der Landbevölkerung relativ breit vertreten sind, einem kleineren Vollzugsausschuss und festangestellten Funktionären entsprechen am ehesten die Räte in Biberach, Saulgau und Waldsee, im Falle Waldsees allerdings ohne festangestellte Funktionäre. Formell, allerdings ohne Bauern, gleicht diesem Modell auch der ASR92Ravensburg-Weingarten, dort ist allerdings die Vollversammlung recht zufällig zusammengesetzt und tritt auch nur ganz wenige Male zusammen, dafür beschäftigt der Ravensburger Rat bis zu zehn festangestellte Funktionäre, die bald ohne jedes Basisorgan agieren. Gegründet werden die Arbeiterräte zunächst überall als örtliche Vertretungsorgane, in der Mehrheit der Fälle erweitern sie sich rasch durch die Zuwahlen zu Bezirksvertretungen, sei es über die gemeinsame Organisation in Arbeiter- und Bauernräten, sei es durch die Zusammenfassung der getrennten Räte in Bezirksausschüssen. Schon die Wahlen zur ersten Landesversammlung der Arbeiterräte im Dezember setzen die Existenz von Räten auf Bezirksebene voraus. Ein Sonderfall bleibt Ravensburg, wo Arbeiterräte ausschließlich aus Ravensburg, Weingarten und Baienfurt zusammen den Bezirksarbeiterrat bilden, die übrigen Landgemeinden nicht vertreten sind, und später jeweils einer der Funktionäre den Titel eines Bezirksarbeiterrats führt. In den Oberämtern Ehingen und Wangen bleibt es bei örtlichen Arbeiterräten, wobei der Landesausschuss dem Ehinger Rat die Funktion eines Bezirksarbeiterrats zuweist. Diese Arbeiterräte bilden mit den Bauernräten einen gemeinsamen Bezirksausschuss in Ehingen, dem dort ein Schultheiß und Bauer, und einen gemeinsamen Vollzugsausschuss in Wangen, dem der örtliche Zeitungsredakteur präsidiert. In den ebenfalls ländlichen Oberämtern Leutkirch und Riedlingen haben die ohnehin unbedeutenden Arbeiterräte keinerlei organisatorische Verbindung zu den Bauernräten. In Riedlingen gibt es nur den örtlichen Volksrat, der vom Stuttgarter Landesausschuss nicht anerkannt wird, ebensowenig wie der dortige Bezirksbauernrat.

Deshalb kann Riedlingen auch keine Delegierten in die Landesversammlungen der Arbeiterräte in Stuttgart entsenden, wo Friedrichshafen und Ravensburg mit je drei, Biberach mit zwei, die übrigen Bezirksarbeiterräte mit einem Delegierten, in der Regel dem Vorsitzenden, vertreten sind. Waldsee und Wangen schicken selbständige Kaufleute, Biberach immer unter anderen den Amtmann des Oberamts nach Stuttgart. Nur einmal hat ein Bauernrat hat die Ehre delegiert zu werden, der Gutspächter und Vorsitzende des Bezirksbauernrats Leutkirch, der dann beim Landesbauernrat Karriere macht. Ihm wird aber in Stuttgart zunächst der Zutritt zur dritten Landesversammlung verwehrt, und erst auf Intervention des Landesausschusses kann er teilnehmen. In den Beratungen der Landesversammlungen halten sich die oberschwäbischen Räte zurück und melden sich kaum zu Wort, nur der Saulgauer Ratsvorsitzende Kinzelbach drängt auf energischeres Vorgehen und stellt mehrfach Anträge, die angenommen werden. Zur nächsten Ebene, dem Reichsrätekongress im April 1919 schickt die württembergische Landesversammlung als einzigen oberschwäbischen Vertreter den Friedrichshafener SPD-Arbeiterrat Hertlein.

Wie die Organisationsform variiert auch die berufliche Zusammensetzung der Räte93. Die Stuttgarter Richtlinien sehen nur (männliche) Arbeiter und Beamte als Wähler und damit wohl auch als Räte vor. Daran hält man sich nur ausgerechnet im ländlichen Leutkirch. Dass es gar nicht so einfach ist, Arbeitervertreter zu finden, entschuldigt sich der Waldseer Ratsvorsitzende: "Die Industrie ist klein, wenn ein ABR gewählt werden soll, so müssen wir erst mit der Lupe suchen, bis wir einen Arbeiter finden, ... in Saulgau, Leutkirch und Wangen ist der gleiche Zustand wie bei uns"94. Die Bauern fehlen, da in eigenen Bauernräten organisiert, wie schon bemerkt, in den Arbeiterräten der Bezirke Ehingen, Leutkirch, Riedlingen, Wangen, aber auch in Laupheim und Ravensburg, die selbständigen Gewerbetreibenden bleiben aus den Räten in Friedrichshafen (mit Ausnahme der Tettnanger Vertreter), Leutkirch und Ravensburg ausgeschlossen. In Leutkirch und Ravensburg bilden sich daraufhin eigene Bürgerräte (s.u.). Soldaten gehören zwar anfänglich den Räten in Biberach, Friedrichshafen, Ravensburg und Saulgau an, scheiden aber mit der Auflösung ihrer Truppenteile Anfang 1919 aus (s.u.). Nur in Isny darf eine Frau mit-"raten", allen anderen oberschwäbischen Räten gehören nur Männer an, in Wangen erwägt man immerhin die Aufnahme von Frauen, stellt sie dann aber doch wieder zurück.

Aktivitätsgrad und Ausrichtung lassen sich deutlicher bestimmen, wenn wir die Räte betrachten, die Aktionsausschüsse gebildet haben. In den Biberachern und Saulgauer Ausschüssen ist wieder ein breites berufliches Spektrum vertreten, während in Friedrichshafen und Ravensburg nur Arbeiter die Mitglieder stellen, in Waldsee dominieren die gewerblichen Selbständigen, nur ein Arbeiter ist Mitglied, dessen Aktivitäten ungern gesehen werden. Entsprechende Gruppierungen ergeben sich bei dem Einsatz von festangestellten Funktionären, Ravensburg beschäftigt bis zu zehn, Friedrichshafen bis zu neun, in Biberach und Saulgau sind nur die Vorsitzenden hauptberuflich für den Rat tätig. Die anderen Räte honorieren ihre Mitglieder stundenweise bei Besprechungen und Kontrollen, wenn überhaupt, die Räte mit Funktionären setzen anfangs häufig weitere Ratsmitglieder stunden- und tageweise ein.

Von den aktiven Räten wird Biberach von dem Schreiner Ott (SPD), Ravensburg zunächst von dem früheren Arbeiter, jetzigen SPD-Parteisekretär Ruggaber, später vom Schlosser Föll (SPD) geleitet, Friedrichshafen von dem Schmied Jakob Braun (USPD), später vom Schlosser Hertlein (SPD), Saulgau von dem Amtsgerichtssekretär Kinzelbach (SPD). Arbeiter stehen auch den wenig aktiven Räten in Laupheim (wohl SPD) und Ehingen vor, letzterem zunächst der Brauer Leichtle, der bald wieder in die Reichswehr eintritt, und dann der Kupferschmied Bettenmaier, der im Herbst der USPD beitritt. In Waldsee verhindert der Kaufmann Winter als DDP-Mitglied große Aktivitäten seines Arbeiterrats. Die der Zentrumspartei angehörenden Ratsvorsitzenden betrachten die Räte ohnehin nur als notwendiges Übel: der Leutkircher Landtagsabgeordnete und christliche Gewerkschaftssekretär Laub, der Wangener Möbelhändler Fischer als Vorsitzender des Arbeiterrats und der dortige Vorsitzende des Vollzugsausschusses des ABRs, der Redakteur Walchner, der Schultheiß Renz als Vorsitzender des Bezirksausschusses in Ehingen und der Riedlinger Rektor Dr. Schermann mit seinen beiden Stellvertretern, den beiden Stadtpfarrern.

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