Die relative Autonomie der einzelnen Felder wird von Bourdieu vorausgesetzt, seine „Differenzierungstheorie“ gilt als „wenig elaboriert“.101Das anspruchsvollste Konzept der Funktion von Religion und Kirche in ihrer Evolution und Interdependenz hat Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie entwickelt.102Gesellschaft entwickelt sich historisch in Richtung zunehmender Komplexität. An Differenzierungsformen haben einander abgelöst die segmentäre nach Zentrum und Peripherie, die stratifikatorische und in der modernen Gesellschaft die funktionale Differenzierung. Moderne Gesellschaft besteht aus einem Nebeneinander von spezifischen Systemen, die jeweils eine besondere Funktion für die Gesamtgesellschaft erfüllen und füreinander Umwelt darstellen. Jedes System funktioniert nach seiner eigenen Logik und kann auf Einflüsse seiner Umwelt, d.h. anderer Systeme nur reagieren, wenn es sie in seinen eigenen binären Code übersetzt (z. B. Wirtschaft: Haben/Nichthaben, Politik: Macht/Opposition, Wissenschaft: Wahrheit/Unwahrheit). Jedes System reproduziert sich autopoietisch und verarbeitet die Umweltreize nach Übersetzung in den eigenen Code durch Variation und Selektion.
In der vormodernen, noch nicht funktional differenzierten Gesellschaft war es Aufgabe der Religion, „das Moralschema zu generieren“,103also die Leitnormen der Gesamtgesellschaft zu formulieren und kontrollieren. In der modernen Gesellschaft funktionieren die einzelnen Systeme nach ihren je eigenen Codes. Funktion des Systems Religion ist es, „die Unbestimmbarkeit der Welt in Bestimmbarkeit“ zu verwanden und „allen Phänomenen der Realität Bedeutungen zuzuschreiben, die über ihre reine Faktizität hinausgehen“.104Mittels des Codes Immanenz/Transzendenz wird Unerklärbares der Immanenz der Transzendenz zugewiesen und damit gesellschaftliche Kontingenz bewältigt. Kommunikationsmedium ist der Glaube, „Programm“ der Codierung sind die religiösen Lehren (Offenbarung, Theologie) und Rituale. Zu unterscheiden von Religion ist die Zivilreligion als Basiskonsens der alle Systeme übergreifenden Gesamtgesellschaft.
Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung und Ausdifferenzierung vollzieht sich ein gegenläufiger Prozess. Durch das Wachstum der Systeme Wissenschaft, Ethik und Moral reduziert sich der Bereich des nur transzendental Erklär- und Begründbaren. Andererseits erzeugen Wirtschaft, Politik etc. immer mehr Folgeprobleme im personalen System. Durch Seelsorge und Diakonie erbringt Religion Leistungen für das geschwächte personale System, die innerhalb des Religionssystems immer mehr in den Vordergrund rücken. Innerhalb des Religionssystems herrscht eine „hohe Diversität, Zerstreuung und Variabilität der Erscheinungen“.105Das System bildet eine Vielzahl konkurrierender Organisationen aus, z.B. in Form von Kirchen. Innerhalb dieser Organisationen existieren hierarchische Strukturen mit ihren Kanonisierungen, die „die Kosten der Konfrontation mit der Ungewissheit“ verringern.106
Säkularisierung vollzieht sich nach Luhmann in zwei Prozessen: der weiter schwindenden „Interdependenzen mit den Inklusions-/Exklusions-Regulierungen anderer Funktionssysteme“,107also deren weiterer Abkopplung, und der fortschreitenden Grenzverschiebung der Immanenz auf Kosten der Transzendenz, also ein Schrumpfungsprozess des Systems. Innerhalb des Systems ist ein wachsender Kontrollverlust formaler Organisationen, der Kirchen, zugunsten individueller Programmentscheidungen zu konstatieren, der Prozess der Entkirchlichung.
Es bedarf nicht erneuter Belege: Dieses hochabstrakte Theorie-Konzept gibt einen systematischen Rahmen für alle bisherigen Befunde ab, für die Aus- und Binnendifferenzierung von Kirche und ihre Binnenprobleme. Ob sie nur die Phänomene systematisch reformuliert oder auch überlegene Erklärungen ermöglicht, bleibt fraglich.