Elmar L. Kuhn

Die Säkularisierung Oberschwabens


Das „Milieu“

Es ist umstritten, inwieweit das katholische Milieu ein Ideal- oder ein Realtypus ist.93

Wenn Kriterien für den Übergang von der Lebenswelt zum Milieu ein „dichtes Vereinswesen, eine große Zentrumsbindung, ein ausgebautes konfessionelles Pressewesen und eine dichte pastorale Versorgung“ sind, hat sich in Oberschwaben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein katholisches Milieu gebildet.94Voraussetzung für die Entstehung eines Milieus sind Feindbilder und Frontstellungen. Von den vier „cleavages“, Hauptkonfliktlinien des 19. Jahrhunderts, trafen zwei für Oberschwaben zu: der Zentrum-Peripherie-Konflikt und der Staat-Kirche-Konflikt, die sich gegenseitig verstärkt haben.95

Man mag ein geschlossenes katholisches Milieu für die Gesamt-Region in Frage stellen, da es in größeren Städten kleine Gruppen des liberalen katholischen Bürgertums gab,96für den ländlichen Bereich kann das jeweils lokal geschlossene katholische Milieu nicht bestritten werden. Es ist auch Teil der Lebenserfahrung des Autors. Dieses Milieu ist aber zerfallen, bzw. auf eine alternde Kerngruppe mit starker lokaler Bindung geschrumpft, wie bei jedem Kirchenbesuch augenfällig ist. Konfessionsgrenzen spielen in der öffentlichen Reputation keine Rolle mehr, mehrere Bürgermeister und der Landrat sind evangelischer Konfession. Wie in der lokalen Gesellschaft generell Kommunikationsdichte und –interesse und damit Kohäsion geschwunden sind, belegt auch der Rückgang der Todesanzeigen in der Lokalpresse. Früher war es selbstverständlich, dass die Angehörigen im Todesfall eines Gemeindebürgers Todesanzeigen aufgaben. Heute erscheinen noch etwa bei einem Viertel bis Drittel der Sterbefälle Todesanzeigen. Davon weisen noch etwa drei Viertel aller Anzeigen eine christliche Symbolik oder Wortwahl auf, ein Viertel verzichten darauf.97

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