Dem 2. Vatikanischen Konzil folgten einige Jahrzehnte, in denen die katholische Kirche im Zuge eines „aggiornamento“ bisherige Ansprüche an die Umwelt reduzierte, Anpassungen von Struktur und theologischem „Programm“ vornahm und Gedanken „kirchlicher Aufklärung“ wieder aufgriff.108Mittlerweile gehen die Abwehrstrategien gegen die „Erosion der Gnadenanstalt“ eher wieder in Richtung eines neuen Ultramontanismus.109Dabei trennen sich vorläufig noch, wie schon im 19. Jahrhundert, die Wege von Welt- und Ortskirche, von Rom und Rottenburg.
Rom reagiert mit Strategien
der Exklusion: Neo-Dogmatisierung, Zentralisierung, Disziplinierung, Reklerikalisierung und Personalpolitik,110
der Belebung traditioneller Frömmigkeitsformen,111
der Förderung „neuer geistlicher Bewegungen“, d. h. traditionalistischer „charismatischer“ Organisationen,
der Focussierung der Medienaufmerksamkeit auf den Papst.
Im Bistum leistet man hinhaltenden Widerstand soweit möglich gegen die Direktiven Roms. Wider den Geist der Wende verortet sich der Bischof historisch: „Die Tradition der katholischen Aufklärung war von Anfang an in unserer Diözese verankert“.112Vom Klerus an der Basis werden die römischen Schreiben ohnehin nicht gelesen und in den Pfarrhäusern nicht einmal gesammelt. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert wird die Wendung zu einem neuen Ultramontanismus nur von einer sehr kleinen Minderheit des verbliebenen Kirchenvolks mitgetragen,113es wird eher von den Nachrichten aus Rom in die Resignation getrieben. Die Diözesanleitung sucht, die „Not als Chance“ zu nutzen und reagiert auf die „Umbruchsituation“
mit Anpassung der Organisation an die geringeren Priesterzahlen durch die Bildung der Seelsorgeeinheiten,
und Aktivierung der Laien trotz der römischen Einschränkungen.
Letzteres liest sich verheißungsvoll:
„Entwicklung einer evangelisierenden Gemeindepraxis“,
„Berufung des Volkes als ‚Mitarbeiter Gottes’“,
„Aufbau der Gemeinde zu einem lebendigen Organismus“,
„Entwicklung einer differenzierten und kooperativen Leitung“.114
In vielen kirchlichen Äußerungen, ob aus Rom oder Rottenburg, wird immer wieder die notwendige „Neu-Evangelisierung“ beschworen, von der aber in der Realität nichts zu bemerken ist und die „bloße Rhetorik bleibt, weil sie gar nicht umsetzbar ist“.115
Erstaunlich ist, wie wenig die Diözese die kircheneigenen Medien nutzt. Das Angebot in den Schriftenständen der meisten Kirchen beschränkt sich weitgehend auf traditionelle Erbauungshefte, in wenigen findet man auch nur die Bistumszeitung.
Wenn ein einflussreicher Religionssoziologe wie Michael N. Ebertz nicht nur „Umbrüche“ und „Abbrüche“ diagnostiziert, sondern auch Therapievorschläge für „Aufbrüche“ liefert,116ist man besonders gespannt, wenn er an einem konkreten „Entwicklungsprozess“ in einem oberschwäbischen Dekanat beteiligt ist. Eine seiner Hauptthesen ist: „Die Festlegung auf die Ortsgemeinde geht an den Menschen vorbei“ und er empfiehlt deshalb, stärker an die heutigen „Lebensräume und Lebensrauminseln“ anzuschließen. Die „neuen Wege“ dort beschränken sich allerdings auf die „Schaffung von Grundlagen für eine kooperative Pastoral durch die Erstellung eines Kooperationsnetzwerks“ über die Pfarreigrenzen hinweg, „um so Synergien zu nutzen“. Es geht also schlichtweg ebenfalls um Aktivierung kompetenter Laien, was man dort „Suche nach Charismen“ nennt, und deren bessere Vernetzung.117Zum „Aufbruch“ wird auch dort noch ein weiter Weg sein.