Auf meine Leitfrage, wie steht es um die Katholizität Oberschwabens,wurde mir im Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg geantwortet: „Noch etwas besser als sonst.“ Heute handelt es sich nur noch um geringe Unterschiede. Nur noch 15-25 % der Katholiken und damit knapp 15 % der Bevölkerung Oberschwabens fühlen sich der Kirche verbunden und zeigen das, aus welchen Gründen immer, durch ihren Kirchgang. Ihre Zahl wird in den nächsten Jahren weiter drastisch sinken.
Es scheint ein Widerspruch, dass der Angleichungsprozess weit fortgeschritten ist, Oberschwaben aber noch katholisch geprägt erscheint. Die Pfarrkirchen auf dem Land überragen noch immer ihre Dörfer. Die Baudenkmäler täuschen Gegenwart vor. Für private und öffentliche Riten gibt es noch keinen entsprechend feierlichen Ersatz. So heiratet man noch vielfach im jungfräulichen Weiß vor dem Altar, geht an Weihnachten vielleicht noch in den stimmungsvollen Gottesdienst und holt den Pfarrer zur Weihe der Vereinsfahne. Kirche wird noch als „sakramentales Dienstleistungsunternehmen“ benötigt.118 Die Hälfte der Bevölkerung sieht wenigstens noch bei der feierlichen Gestaltung von Lebensereignissen das Innere einer Kirche. Formen überleben die Inhalte. Es ist zu erwarten, dass Gottesdienste bald von einer Mehrheit als Folklore-Veranstaltungen oder historische Spektakel wahrgenommen werden.
Oberschwaben hat auf dem Pfad der bislang unaufhaltsamen Modernisierung weitgehend seinen Rückstand aufgeholt. Glückhaft war er sicher nicht immer, aber er bot Sicherheit. Zwar bedeutet Entkirchlichung nicht unbedingt Religionsverlust und Säkularisierung. Aber bisher haben individualisierte Religiosität und Vernunft der „schleichenden Entropie derknappen Ressource Sinn“ wenig entgegensetzen können. „Das innere Gerüst der Gesellschaft stürzt in sich zusammen.“ Der von Bischof Fürst neuerdingsgern zitierte Jürgen Habermas stimmt Max Horkheimer zu: „einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“119
Mit Landwirtschaft und Katholizismus verliert Oberschwaben seine regionale Identität, eine durch diesen Zusammenhang identifizierbare Lebenswelt zerfällt. Eine glückhafte Rückständigkeit tauschen seine Repräsentanten gegen rückständige Zeitgenossenschaft ein. Die Gesellschaft Oberschwaben propagiert Republikanismus in Erinnerung an die freiheitlichen Traditionen und heitere Moralität in verschämter Besinnung auf die Katholizität als wesentliche Elemente heutigen oberschwäbischen Bewusstseins, gewissermaßen als regionale Zivilreligion. Historiker können nicht mehr tun, als die Erinnerung an diese positiv bewerteten Strukturelemente Oberschwabens wach zu halten, als Bürger in der vagen Hoffnung, dass die Funken unter der Asche weiterglühen.
Gershom Scholem erzählt die Geschichte von den vier Generationen chassidischer Rabbis, von denen der erste noch an einem Platz im Wald ein Feuer entzündet, Gebete zu Gott spricht und von Gott erhört wird, der letzte Rabbi aber den Platz im Wald nicht mehr kennt, kein Feuer entzünden kann und die Gebete nicht mehr weiß, aber die Geschichte davon noch erzählt und dafür von Gott erhört wird.120Die Theologen erzählen die Geschichte der Offenbarung, die Historiker erzählen die Geschichten von den Geschichten, beide in der Hoffnung auf Wirkung. Der Historiker kann nur die Geschichte schreiben, der Theologe vertraut auf die Heilsgeschichte: „Wir dürfen gewiss sein, dass in allem, was wir erleben, Gottes Geist am Werk ist. ... wir dürfen ihm vertrauen, dass er den Weg auch für unsere Zeit kennt.“121
Veröffentlicht in: Peter Blickle / Rudolf Schlögl (Hg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas. Epfendorf: bibliotheca academica, 2005 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 13), S. 483-516.