Schon vor der Säkularisation, in den 1780er Jahren, versuchte der Bischof von Konstanz Reformen im Sinne der Aufklärung durchzusetzen, wandte sich gegen Auswüchse der Benediktionen, Exorzismen, der Heiligen- und Reliquienverehrung und gab ein deutsches Gebetbuch heraus.13Mit der Säkularisation brach das Gebäude der Reichskirche zusammen. Der Generalvikar und Bistumsverweser von Wessenberg setzte die Gedanken der Aufklärung in dem Vierteljahrhundert seines Wirkens so konsequent wie in keinem anderen deutschen Bistum durch.14Obwohl sich die neuen Landesherren fast alle Patronate angeeignet hatten, stärkte Wessenberg den Einfluss des Ordinariats auf den Klerus entscheidend durch die Verbesserung der Ausbildung im Priesterseminar Meersburg, ein umfassendes Visitationssystem, eine kontinuierliche Fortbildung des Klerus in Pastoralkonferenzen, Konferenzvorträge und Veröffentlichungen im Periodikum „Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz“ und Lesegesellschaften. Die liturgischen Reformen stellten die Messfeier in den Mittelpunkt aller Andachtsformen, verpflichteten den Pfarrer zu regelmäßiger Sonntagspredigt während, nicht vor der Messe und die Gemeinde zum deutschen Messgesang statt des Rosenkranzgebets. Die Gläubigen sollten stärker an ihre Pfarrei gebunden werden, alles „Auslaufen“ in Wallfahrts- und Nachbarkirchen verhindert werden. Viele Formen barocker Volksfrömmigkeit wurden unterbunden oder wenigstens eingeschränkt. Die Kontrolle des Religionsunterrichts in den Schulen und die Christenlehre sollten die religiöse Bildung heben. Ziel war die Evidenz des Schöpfungsglaubens, ein vernunftgeleiteter Offenbarungsglauben, eine intrinsisch verankerte Ethik und eine bewusst aus dem Glauben gestaltete Lebenswelt. Konfessionelle Polemik wurde vermieden.
Fatal war, dass diese Reformen nur gegen Rom im Bündnis mit den neuen Staaten realisiert werden konnten, die aber ihrerseits zur Bildung ihrer neuen Landesbistümer auf einen Kompromiss mit Rom angewiesen waren. Die Kirche wurde in diesem neuen Mittelstaat als Staatsanstalt, Bischof und Klerus wurden als Staatsbeamte für den Kult betrachtet. Der württembergische König äußerte, einen Bischof brauche er nur als „Weiher und Salber“. Der katholischen Kirchenrat im Kultministerium regelte alle Verwaltungsangelegenheiten der Kirche und führte die Aufsicht über den Klerus, die gesamte Priesterausbildung stand unter staatlicher Kontrolle, alle von kirchlichen Organen ausgehende Anordnungen unterlagen landesherrlicher Genehmigung, finanziell war die Kirche ohnehin vom Staat abhängig. In der Zusammenarbeit von Pfarrer, Schultheiß und Gemeinderat auf Gemeindeebene und im gemeinschaftlichen Oberamt von Dekan und Oberamtmann auf Bezirksebene sollte externe Kontrolle der Lebenswelt eingreifen, wenn die ethischen Prinzipien noch ungenügend internalisiert waren.15Die Unfreiheit im Staat verschaffte zwei Generationen des aufgeklärten Klerus die nötige Freiheit von Rom, ihre Reformvorstellungen umzusetzen. Diese Ära des aufgeklärten Staatskirchentums überdauerte das würdelose Ende des Bistums Konstanz und damit den Amtsverlust Wessenbergs. Aber schon früh zeichneten sich Konfliktlinien ab angesichts des Traditionalismus des Kirchenvolks und der protestantischen Prägung von Regierung und Verwaltung.
Bei den Visitationen im Dekanat Tettnang hebt der Dekan 1823 bei der Christenlehre hervor: „Die Erkenntnis Gottes entsteht aus der Vernunft ..., dazu kommt das Gewissen“.16Er kritisiert, „das Volk nimmt am Kirchengesang noch keinen Anteil“, „Rosenkränze werden hierzulande noch viele gebetet“ und auch das „Wallfahren geschieht hie und da einzeln noch“.17Aber 1827 hat der „Volksgesang beim Gottesdienst ... überall mehr oder weniger begonnen“.181832 muss noch auf die Entfernung „angekleideter Heiligenbilder in den Kirchen“ gedrängt werden.19Als 1837 eine neue Gottesdienstordnung die Reform des Gottesdienstes kodifizierte, fuhr eine Deputation aus dreizehn Pfarreien des südlichen Oberlandes nach Stuttgart und übergab dem König eine Petition mit der Klage, dass der neumodische Kultus „alle dem Volke vertrauten und lieben Einrichtungen ... katholischer Frömmigkeit beseitigte“.20Noch 1840 konstatierte der Dekan, die neue Ordnung habe „den Pfarrgemeinden nicht gefallen wollen ... und den Pfarrgeistlichen Unannehmlichkeiten zugezogen. ... Der Sturm hat sich jedoch gelegt“. Die Internalisierung des Glaubens ging ihm nicht weit genug, er berichtet, dass „die Leute in der Seegegend religiös sind, gern in die Kirche gehen“ aber eben die Religion nur „äußerlich üben“. An „sittlichen Gebrechen“ in der persönlichen Lebensführung seien „Hofart und Kleiderpracht ... Genusssucht und Wohlleben ... fleischliche Vergehen ... sehr im Schwange“.21
Einen völligen Misserfolg der aufklärerischen Bemühungen stellte der Dekan 1847 in seinem Bericht fest: „Einen Glauben, der weiter als über die Lippen reicht, hat der Bewohner der Seegegend in der Regel nicht. Von Religion, die das Leben regelt, die den Menschen unter Hinweisung auf sein höheres Ziel überall hinleitet und führt, dürfte nur bei wenigen die Rede sein. Dagegen ist er, wie der Oberschwabe überhaupt, sehr kirchlich, sofern er darauf sieht, dass der Gottesdienst feierlich, seine Sinne unterhaltend abgehalten werde... Das Wort Gottes oder die Erbauung, die ihn hinausweist aus seinem Sinnenkreise, ist ihm Nebensache. ... Pulverschüsse, Prozessionen, rauschende Musik und im Alter der Rosenkranz, das sind seine Lieblingsgegenstände.“22
Aber nun zeichnete sich ein Generationswechsel im Klerus ab. Schon 1833 zeigte sich der „Clerus... wie sein Zeitalter, in welchem er seine Bildung erhalten hat, entweder für das Ältere oder Neuere ... eingenommen“.23 1840 berichtet der Dekan „Die Geistlichen sind in Grundsätzen und Ansichten verschieden; einige neigen zu freieren Ansichten hin, sie wollen Reformen in der Kirche ... andere folgen streng orthodoxen Ansichten“.24In der Revolution von 1848/49 hielten noch alle Pfarrer im Dekanat zu König und Staat, nur einige jüngere Hilfsgeistliche sympathisierten mit der Revolution.25Im benachbarten Dekanat Überlingen, wo der Erzbischof 1846 die Priester mit dem Hinweis auf das jüngste Gericht mahnte, sich „fest an jenen Fels, den Christus gelegt, ... den heiligen Stuhl“ anzuschließen und die Verwendung der deutschen Sprache in der Messe durch den Priester als schismatischen Kult verurteilte,26selbst dort beschloss eine Versammlung aller Geistlichen 1848 als „letzte Bitte“ an den Erzbischof
die Bildung einer deutschen Nationalkirche mit Synoden,
den Gebrauch der Muttersprache im Gottesdienst,
die Wahl von Bischof und Domkapitel durch Laien und Geistliche,
die Aufhebung des Pflichtzölibats.27