Nach der Revolution war der Sieg des Ultramontanismus mit einer neuen Pfarrergeneration nicht mehr aufzuhalten, in der Diözese Rottenburg bis zur Jahrhundertwende in moderaten Formen, im Erzbistum Freiburg vom Erzbischof provokativ betrieben bis zur Eskalation im Kulturkampf.28In einem konfliktreichen Prozess zwischen den 1840er und 1860er Jahren kam der württembergische Staat den kirchlichen Forderungen entgegen und gewährte dem Bischof größere Handlungsfreiheit. Was die Kirche an Freiheit vom Staat gewann, verlor sie an innerer Freiheit. Es erfolgte der „dramatisch forcierte Ausbau der päpstlichen Diktatur im Zeichen des Ultramontanismus und des mit ihm konsequent verknüpften Neodogmatismus“.29Im Zuge der Stärkung der kirchlichen Hierarchie erfuhren Papst und später auch der Bischof vorher nicht gekannte, geradezu kultische Verehrung. In der Messliturgie wurde wieder nur die lateinische Sprache zugelassen. Eine Vielfalt von Frömmigkeitsformen konnte wieder gepflegt werden, Heiligen-, vor allem Marienverehrung, Andachten, Rosenkranzgebet, Wallfahrten, Prozessionen wurden wieder zur Freude des Volkes zugelassen. Von der Aufklärung übernahmen die Ultramontanen die Wertschätzung der Predigt, konzentriert eingesetzt in den Volksmissionen, nur mit jetzt gewandelten Inhalten. Mit der wieder betonten apologetischen Abgrenzung, dem „zweiten konfessionellen Zeitalter“30fungierte nun die katholische Konfession als Kristallisationskern einer bewussten regionalen Identität, die sich vor 1800 primär politisch artikuliert hatte und in der offeneren Atmosphäre des frühen 19. Jahrhunderts diffuser geworden war31. Kapselte sich der Ultramontanismus vom Zeitgeist ab, so benutzte er doch moderne Organisationsformen, band das Kirchenvolk in ein dichtes Netz von Standes-, Bildungs-, Missions- und Hilfsvereinen ein, das Zentrum vertrat seit dem späten 19. Jahrhundert die kirchlichen Interessen in der Politik, Kirchen- und Zentrumspresse kanalisierten den Informationsfluss. Die katholische Lebenswelt verdichtete sich zum „katholischen Milieu“.32Die Frontstellung zum Staat entfiel nach 1918, als das Zentrum im Land und Reich mitregierte. Mit der in Oberschwaben späten und zunächst nur insularen Industrialisierung distanzierten sich in den größeren Städten Teile der Arbeiter von der Kirche, aber das neue Feindbild des konkurrierenden, wenngleich viel schwächeren linken Gegenmilieus, stärkte die Integrationskraft des weiterhin dominanten katholischen Milieus.33Nach 1945 konnte Katholizität dann für einige Jahre sogar die „Landesidentität“ des Mini-Staates Württemberg-Hohenzollern prägen.34
Die Visitationsberichte eines ganzen Jahrhunderts von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnen nun ein positives Bild der Kirchlichkeit im Dekanat Tettnang. Auf die religiösen Praktiken braucht der Visitator gar nicht mehr konkret einzugehen, Kritik wird lange nur noch an den „sittlichen Gebrechen“ geübt, aber auch darüber fällt das Urteil im Laufe des 19. Jahrhunderts positiver aus. Klerus und Volk haben wieder zusammengefunden.
Ich zitiere einige Kernsätze:
1866: „Das Volk eilt noch überall zahlreich in seine Kirchen und zu seinen Altären“. Der Bischof resümiert, dass „der heilige katholische Glaube tief in den Gemütern des Volkes wurzelt“.35
1875: „christlich-katholischer Glauben und Leben (werden) mit regem Eifer und erfreulichem Erfolg geliebt und gepflegt“.36
1897: „Eine lobenswerte Treue und Anhänglichkeit an den Glauben unserer heiligen katholischen Kirche (ist) zu finden“.37
1906: Es „muss wieder gesagt werden, dass das Volk im großen ganzen doch noch strenggläubig ist, zu Geistlichkeit und Bischof steht, namentlich wenn es gilt und dass gerade die Männer auch im öffentlichen Leben diese ihre Treue und Anhänglichkeit zeigen“, wie „der treffliche Ausgang der letzten Landtagswahlen“ belegt.38
Immerhin wird in diesem Jahr erstmals das „Eindringen moderner Ideen“ gerügt. Nach dem Ersten Weltkrieg wird zwar das „rege religiöse Leben der Mehrzahl“ trotz der „Nachwehen des Krieges“ gelobt, aber auch auf die „Krankheitserscheinungen“ hingewiesen: „Gefährlich ist der Einfluss des religionsfeindlichen Sozialismus auf die Industriearbeiter der beiden Städte und deren nächste Umgebung. In der Flut der Glaubenslosigkeit versinken auch katholische Arbeiter, aber solange sie in katholischer Umgebung wohnen, ist noch Hoffnung, dass dieselben zum Glauben der Kindheit zurückkehren“.39
Auch 1929 findet der Dekan noch „guten kirchlichen Sinn ...allerorts im Bezirke“ vor. „Allerdings ist auch das platte Land vom Zeitgeist nicht unberührt“, weil nun „die sommerliche Fremdenindustrie ohne Zweifel auch religiös ungünstig abfärbt“.40
In der NS-Zeit äußern sich die Visitatoren zurückhaltend, zumal als 1941 der Dekan aus dem Kreis verwiesen wird. 1937 resümiert er: „Ich konnte mit den Ergebnissen der Visitation wohl zufrieden sein... Der Geist in den Gemeinden ist immer noch ein guter, abgesehen von denen, die mit dem Zeitgeist gehen“.411940 bröckelt das katholische Milieu: In der Stadt werden etwa „50 % Osterrenitente“ gezählt. Das Ordinariat zeichnet aber immer noch ein „sehr gutes Bild vom religiös-sittlichen Stand der Gemeinden... Freilich zeigt sich überall die beginnende Diaspora, die fortschreitende Industrialisierung und der Geist unserer Zeit“.421942 schildert der neue Dekan nur noch einen „befriedigenden sittlichen-religiösen Stand“ fest.43Von Widerstand der Kirche kann kaum die Rede sein, Resistenz zeigte sie nur im Versuch, ihre Institutionen zu bewahren. 44