Nach den „Jahren des nationalsozialistischen Terrors“ fanden sich in Aulendorf Persönlichkeiten aus Oberschwaben und dem weiteren Württemberg um den Buchhändler Josef Rieck zusammen, um dort einen „Treff- und Sammelpunkt der geistigen Kräfte“ einzurichten, „die an einer grundlegenden Neuorientierung unseres sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens verantwortungsbewußt arbeiten“15. Der Sekretär der Gesellschaft, Baron Schenk von Stauffenberg, erläuterte bei der Gründungsversammlung 1946, warum gerade dieser Ort gewählt wurde. Aulendorf sei der „Mittelpunkt des Landes, in dem universaler Humanismus und universale Katholizität noch lebendig sind. Andererseits sind dort die Entwicklungen, die die Geistesgeschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts genommen hat, nicht mehr tragend mitgestaltet worden. Ohne Bruch mit dem Bestehenden kann daher dort an eine brauchbare Tradition angeknüpft werden.“16
Bald zeigte sich freilich, dass diese Traditionen sehr unterschiedlich interpretiert werden konnten. Der Fürst von Waldburg-Zeil sah „in der Unterwerfung des Subjekts unter das objektive ’ut in omnibus glorificetur Deus’“ die Realisierung der „oberschwäbischen Idee“. „In Oberschwaben lebt heute noch ein Stück des natürlichen ‚ordo bonorum’ Alberts des Großen.“17Anders als der Architekt Hugo Häring, der theokratische Vorstellungen mit technokratischer Regionalplanung zu verbinden verstand, verließ der Fürst bald die Gesellschaft mit ihrem „liberalen Gewäsch“ von Humanismus.
Als Leitbild der Gesellschaft wurde bald die gern zitierte, aber meist wenig genau gelesene Rede des damaligen Quasi-Staatspräsidenten von Württemberg-Hohenzollern Karl, später Carlo Schmid empfunden. Er argumentierte im Gegensatz zum Fürsten nicht theo-, sondern anthropozentrisch. Nach ihm flog über Oberschwaben als dessen Genius der „Engel der Humanität“18(27). In Oberschwaben sei „ein Menschenbild zur Ausprägung gekommen ..., in dem Züge der Humanität bewahrt werden konnten, die anderwärts geopfert werden mußten.“ (22) Geschichte, Kunst und Literatur seien hier „ausgezeichnet durch ihre Bezogenheit auf das Maß des Menschen“ (25). Die „eigentliche und wesensmäßige Katholizität dieses Landes“ mache aus „ein freudiges Bejahen der Welt, die ... [wir] aus der Hand des Schöpfers empfangen ha[ben], dieses guten Gottes, der nichts von uns will, als daß wir ihm im rechten Entfalten dessen, was er uns schenkte, die Ehre geben“ (27). Es gelte, „die Kräfte fruchtbar zu machen“, die hier gegeben sind: „Christentum und Humanität und den Drang des Menschen, um seiner Würde willen in einer Welt zu leben, in der jedem an äußeren und inneren Gütern zuteil wird, wessen er bedarf“ (29).
In einer Reihe von Tagungen versuchte diese alte Gesellschaft Oberschwaben ihre Leitideen und Ziele zu konkretisieren. Die diskutierenden Fachleute kümmerten sich meist wenig darum. Das anthropozentrische Menschenbild war in Oberschwaben nicht mehrheitsfähig. So blieb im Streit zwischen neoscholastischen, reformkatholischen und sozialliberalen Vorstellungen schließlich Ratlosigkeit. „Was eigentlich kann Oberschwaben für sich in Anspruch nehmen. Darauf weiß niemand eine Antwort.“ resignierte der spätere Wangener Landrat Dr. Walter Münch auf der letzten Kuratoriumssitzung der Gesellschaft19.