Elmar L. Kuhn

Die Reformation in Oberschwaben


6.3 Gründe und Folgen der Reformation

Dass sich die Reformation in weiten Teilen Deutschlands durchsetzen konnte und Luther nicht das Schicksal von Hus teilte, war sicher auch, aber nicht in erster Linie seiner überzeugenden Lehre zu verdanken. Ihm kam zugute, dass Rom wegen der anstehenden Kaiserwahl nicht sofort den Prozess gegen den Mönch eröffnete, vor allem aber die Interessen der Fürsten an einem erheblichen Machtzuwachs und das politisch erzwungene Taktieren des Kaisers, der immer wieder auf die Unterstützung auch der evangelisch gewordenen Reichsfürsten angewiesen war. Erst dadurch wurde Fürsten, Adel und Städten die Chance zur Selbstbestimmung des Glaubens eröffnet. Den Entscheidungen ihrer Herren hatten sich die Untertanen zu fügen. Nur in Reichsstädten konnte die Mehrheit der Bevölkerung anfänglich selbst über ihren Glauben entscheiden, sofern der Rat dies zuließ.

Von den ursprünglichen Zielen der Reformation, die die Massen begeistert hatten, blieb wenig. Von der ursprünglich beanspruchten „Freiheit eines Christenmenschen“ und Gewissensfreiheit konnte in den evangelischen Gebieten keine Rede mehr sein. Glaubensfreiheit gab es genau so wenig wie in den katholischen Gebieten. Neue Dogmen traten an die Stelle der alten. Die Geistlichen handelten den Glauben in immer neuen Bekenntnissen aus und schufen so eine neue „Tradition“ anstelle der verworfenen katholischen Lehre. An die Stelle des Priestertums aller Gläubigen trat de facto eine neue Kirchenhierarchie, an deren Spitze die weltliche Obrigkeit stand. Die Verordnungen über Sittenzucht schränkten Lebensgenuss und Lebensmöglichkeiten auf rigide Weise ein.

In der Konfrontation mit der Reformation sah sich die katholische Kirche in ihrer „Gegenreform“ gezwungen, ihre eigene Lehre präziser zu definieren und so den bisherigen Spielraum theologischer Lehrmeinungen einzuengen. Die katholischen Territorien erließen ebenso wie die evangelischen nun genaue Vorschriften für die Lebensführungen in ihren Landes- und Polizeiordnungen. Aber es blieben Unterschiede: Das Leben in den evangelischen Gebieten wurde umfassender und strenger geregelt und kontrolliert. Katholische Gegenden boten der Lebensfreude mehr Raum. Gegenüber den evangelischen Realteilungsgebieten sicherte das Anerbenrecht in den katholischen Gebieten und damit in Oberschwaben einem Teil der ländlichen Bevölkerung mehr Wohlstand.

Hätte sich der reformierte Glauben Zwinglis und Calvins durchgesetzt, wäre die Kontrolle aller Lebensäußerungen noch rigider ausgefallen: Praktiziert wäre „die formelle Unterdrückung jeglicher Lust und die stillschweigende Tolerierung des Wuchers“ worden. Es hätten „Pastoren und Kirchenälteste in unbarmherziger Weise ein moralinsaures Denunziantentum, mit Bußgeldern, Vorladungen vor den Kirchenrat, demütigendes Beichten und öffentliche Selbstanklagen“ organisiert. In den reformierten Gebieten entstand „ein neuer Menschentyp mit neugestalteter Persönlichkeit“ (LeRoy Ladurie). Die lutherische Askese blieb demgegenüber moderater, aber die Unterschiede in Kleidungssitten und Kirchenausstattung zwischen katholischen und evangelischen Gebieten visualisieren das unterschiedliche Maß, was an Sinnlichkeit zugelassen war.

Abschließend kann man zur Reformation allgemein sagen: Sie war in doppelter Hinsicht ein Verhängnis. Die dogmatischen Festlegungen auf beiden Seiten schränkten die Glaubensfreiheiten gegenüber dem Mittelalter deutlich ein. Die konfessionelle Spaltung schwächte das Reich politisch und führte zu den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts und konfessionellen Konflikten bis ins 20. Jahrhundert.

Ohne zentrale Kirchenorganisation und durch die unmittelbare Kirchenherrschaft des Staates in den großen evangelischen Territorien wuchs diesen Herrschaften ein riesiger Besitz und vor allem eine effektivere Herrschaft über die Köpfe ihrer Untertanen zu. Die Obrigkeitsfixierung der evangelischen Gläubigen bis hin zur mehrheitlichen Wahl der NSDAP war die Folge. In den katholischen Gebieten blieb dagegen immer ein Dualismus weltlicher und geistlicher Gewalten und damit ein Konkurrenz- und Spannungsverhältnis erhalten.

Heute sind alle christlichen Konfessionen von Auszehrung bedroht. Im gemeinsamen Wort zum Reformationsjubiläum heißt es vage: „Wir übersehen nicht, dass es weiterhin offene Fragen gibt, die uns noch trennen. Aber wir lassen uns dadurch nicht von unserem ökumenischen Weg abbringen.“ Aber es geht nicht mehr um ökumenische oder konfessionelle Wege, unsere Gesellschaft ist auf dem Weg, jegliche christliche Prägung abzustreifen und transzendentale Begründungen einer Weltsicht und des Sittengesetzes generell abzulehnen.

Dieser Text ist eine Kompilation aus Vorträgen in den Jahren 2018 und 2019 in Wolfegg, Kressbronn, Meßkirch und Oberdorf.

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