Am 16. Juni 1919 schickt der Bezirks-ABSR Friedrichshafen einen Bericht an den Landesausschuss der Arbeiterräte zum Abdruck in dessen Korrespondenzblatt. Dazu mag sich der Landesausschuss allerdings nicht entschließen, Erfolgsmeldungen des einzigen von der USPD geführten Arbeiterrats will er nicht verbreiten. "Auf dem Büro (ist) dauernd ein Arbeiterrat anwesend, welcher Rechts- und andere Auskünfte erteilt ... die Tätigkeit des Arbeiterrates ist eine äußerst vielseitige. Friedrichshafen hat trotz der großen Industrie noch kein Gewerbegericht, bei Differenzen mit den Unternehmern gelang es uns in sehr vielen Fällen, schlichtend einzugreifen ... In vielen Fällen konnten sich die Unternehmer nicht entschließen, die gesetzlich vorgeschriebene 8-Stunden-Arbeitszeit einzuführen ...Auch auf dem Gebiet der Lebensmittelbeschlagnahme hat sich der Arbeiterrat erfolgreich betätigt ... ein besonders trübes Kapitel ist die Wohnungsnot ...Die Bauernräte haben auch schon eine Fülle positiver Arbeit geleistet“29.
Diese Tätigkeiten sind weit entfernt von den Vorstellungen des Arbeiterrats am 5. November noch vor dem Sieg der Revolution und der Parole im "Mitteilungsblatt des Arbeiter- und Soldatenrates von Stuttgart und Württemberg“ „Die rote Fahne“: "Die ganze Macht den Arbeiter- und Soldatenräten"30, sondern halten sich im Rahmen der Satzungskompetenzen vom 14.Dezember 1918. Aber schon das Flugblatt des ASRes, unterzeichnet auch vom USPD-Vorsitzenden Braun, das zur Volksversammlung am 11. November 1918 einlädt, beschränkt sich auf ausschließlich demokratische Forderungen, wie die "Durchführung der republikanischen Staatsverfassung", allgemeines Wahlrecht, Verhältniswahl, Neuwahl der Parlamente und erwähnt Rechte der Räte gar nicht31. Wieder schreibt man in Friedrichshafen einfach das Stuttgarter Programm ab, war es am 5. November das Programm der Stuttgarter USPD, so jetzt das Kompromissprogramm von Gewerkschaften, SPD und USPD vom 9. November.32
Zunächst ist der Arbeiterrat voll mit praktischer Arbeit beschäftigt, erst 1919 brechen Diskussionen über die weitere Rolle der Räte auf. Der SPD-Arbeiterrat Hertlein erklärt der Vollversammlung vom 22. Februar, "dass mit den Wahlen zu den Gemeindekollegien die Arbeiterräte als erledigt zu betrachten seien" (die Wahlen sollen am 20.Mai 1919 stattfinden). Demgegenüber besteht USPD-Arbeiterrat Reinhardt darauf, "dass die Arbeiterräte so lange bestehen müssen, bis in jeder Beziehung die Errungenschaften der Revolution als gesichert zu betrachten sind"33. Mit dieser Auffassung bleibt er aber gegenüber "Bürgerlichen und Mehrheitssozialisten" in der Minderheit. Beide Seiten billigen den Räten nur eine transitorische Funktion zu, sind sich allerdings über den Zeitpunkt uneinig, zu dem sie überflüssig werden sollen. Eine "große Versammlung der Industrie-Arbeiterschaft", die wenige Tage später wohl auf Betreiben der USPD zusammenkommt, nimmt eine Entschließung an: "Die Arbeiterräte ... sind die Träger der politischen und ausübenden Gewalt. Sie entsenden in die Körperschaften und Behörden Vertrauensmänner, um dort die Wünsche und Beschwerden des arbeitenden Volkes vorzubringen"34. Das klingt widersprüchlich und beschränkt konkret die Räte auf eine Rolle als Interessenvertretung.
Innerhalb eines Monats radikalisiert sich die Position der USPD. Entgegen der abnehmenden Bedeutung der Rätepraxis gewinnt die Rätetheorie an Bedeutung. Im Generalstreik im April 1919 propagiert die "Rote Seefahne, Mitteilungsblatt der Streikleitung": "Die Befugnisse der Räte müssen weitergezogen werden, wenn sie tatsächlich die Interessen des Proletariats wahrnehmen sollen. Die alten Organe der Gesetzgebung und Verwaltung, Parlamente, Gericht, Polizei und Behörde müssen verschwinden. Ihre Funktionen übernehmen die Räte, sie vereinigen zugleich beschließende und ausführende Gewalt in sich. Die Wahl erfolgt durch die Arbeiterschaft in den Betrieben ... Die Arbeiter- und Soldatenräte bilden die Basis, auf welcher sich die Räterepublik der Zukunft aufbaut"35. Reinhardt ist "der Meinung, dass Parlamentarismus und Rätesystem ein Unsinn seien, sie könnten auf die Dauer nicht nebeneinander bestehen"36. Die USPD kehrt damit wieder zu ihrem Programm vom 5. November 1918 zurück. In einer Parteiversammlung Anfang Mai weist die USPD den Räten kaum mehr überbietbare Aufgaben zu: "Im Rätesystem hat sich die proletarische Revolution ihre Kampforganisation geschaffen ... sie schafft den Proletariern das Recht der Selbstverwaltung in den Betrieben, in den Gemeinden, im Staate. Sie führt die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische durch"37. Die SPD zieht nach, beharrt jedoch auf einer systemimmanenten Rolle der Räte. So formuliert Hertlein am 7. Mai auf einer SPD-Versammlung, das Rätesystem solle "vorläufig nicht abgeschafft werden. Dieses System soll jedoch mehr die wirtschaftliche Seite innerhalb unseres Volkes im Ganzen vorantreiben, darin Mitbestimmungsrecht zu erreichen es soll und muss": Räte zwar als dauerhafte, aber nicht als politische, sondern als wirtschaftliche Mitbestimmungsorgane38.
In einem Konflikt zwischen SPD und USPD über die Haltung des Arbeiterrats zu den Reserve-Sicherheitstruppen, einer gegenrevolutionären Bürgerwehr, erzwingen Oberamtmann und Landesausschuss Anfang Mai eine Erweiterung des Vollzugsausschusses, der nur noch aus den 4 fest angestellten USPD-Funktionären besteht, um 3 SPD-Mitglieder. Kurz darauf droht das Ende für die Arbeiterräte im ganzen Land. Die bürgerliche Mehrheit des Landtags setzt im Juni einen Beschluss durch, wonach die Räte bis zum 15. Juli aufzulösen seien. Dagegen protestiert der Arbeiterrat von Friedrichshafen in seiner Vollversammlung am 28. Juli: "Der Beschluss ist geeignet, unter der arbeitenden Bevölkerung große Erbitterung hervorzurufen, da die Arbeiterräte als wertvollste Errungenschaft der Revolution von der Arbeiterschaft betrachtet werden. Wir fordern vielmehr, dass die Arbeiterräte von der Regierung voll und ganz anerkannt werden ... Um die Arbeiter- und Bauernräte vollständig unabhängig vom Oberamt und den Gemeindebehörden zu machen, hat die Regierung die Kosten zu tragen"39. Die bürgerliche Fraktion im Arbeiterrat geht nicht soweit, hält aber auch "den Beschluss der Landesversammlung ... für verfehlt ..., solange nicht durch Gesetz für Einsetzung der Betriebsräte eine ähnliche Einrichtung geschaffen ist"40. Der Landtag hebt am 16. Juli seinen Auflösungsbeschluss auf, schränkt jedoch die Aufgabe der Räte nun ein: "Die Arbeiter- und Bauernräte kontrollieren die Durchführung der von der Regierung und ihren Behörden einschließlich der Kommunalverbände getroffenen Maßnahmen und Ordnungen. Gegenüber den Gemeindebehörden steht ihnen ein Kontrollrecht bei der Durchführung von Maßregeln auf dem Gebiet des Ernährungs- und Wohnungswesens zu"41.
Aber die Funktionäre des Friedrichshafener Arbeiterrats kommen im Sommer in doppelte Bedrängnis: von bürgerlicher Seite werden sie als "entbehrliche Einrichtung"42angegriffen, ihre Parteien USPD und KPD (der Geschäftsführer des Arbeiterrats gründet im Juni die KPD-Ortsgruppe) drängen die Funktionäre zum Rücktritt. In einer Versammlung am 28. Juli stellen die "Arbeiterräte der KP" vorsichtig die Frage: "Ist der Arbeiterrat für Friedrichshafen eine Notwendigkeit?"43 Am 18. August verlassen die drei USPD-Mitglieder und der KPD-Geschäftsführer den Vollzugsausschuss, wohl unter dem Druck ihrer Parteiführungen in Stuttgart. Reinhardt bleibt sogar noch bis zum 13. September Funktionär, auch ein SPD-Mitglied schließt sich dem Schritt seiner linken Kollegen an. Was aber auf Reichs- und Landesebene eine Reaktion auf die permanente Unterlegenheit der USPD-Mitglieder in Vollversammlung und Exekutivkomitees ist, ist in Friedrichshafen der Verzicht auf die maßgeblich aktive Rolle im Arbeiterrat.
In der Vollversammlung vom 21. August 1919, die die letzte sein sollte, wird als neuer Geschäftsführer und nunmehr einziger angestellter Funktionär das SPD-Mitglied August Groß sowie ein neuer Vollzugsausschuss gewählt. Dieser nun eindeutig von der SPD beherrschte Arbeiterrat sieht seine Hauptaufgabe in der Kooperation mit den Behörden, nicht mehr in ihrer Kontrolle: "Der Arbeiterrat soll mit den Behörden zusammenarbeiten, damit wirkliche praktische Arbeit geleistet werden könne, eine Notwendigkeit, die sehr viel zu wünschen übrig ließ"44. Am 24. September schreibt der neue Geschäftsführer stolz nach Stuttgart: "Das Zusammenarbeiten von seiten des Bezirksarbeiterrates mit der Gemeinde und dem Oberamt ist ein bedeutend besseres geworden"45. Gegen einen solchen Arbeiterrat haben die Behörden keine Bedenken mehr. Selbst die Finanzierung bereitet nun keine Schwierigkeiten mehr. Zu den mehrfach angekündigten und lange Zeit sowohl vom Oberamt wie von der Linken geforderten Neuwahlen kommt es nicht mehr. Resignativ stellt der Geschäftsführer Groß am 15. Dezember 1919 fest: "Die ganze Arbeiterschaft am hiesigen Platze hat sich im Gewerkschaftskartell zusammengefunden, um gemeinschaftlich gegen das Schieber- und Wuchertum zu kämpfen. Es sind Kommissionen gewählt worden, welche die Sache in die Hand nehmen ... Meine Ansicht ist von vornherein die - entweder müssen den Arbeiterräten weitere Rechte eingeräumt werden oder sollen sie sich auflösen"46. Zum 1. März 1920 schließt der Vollzugsausschuss sein Büro in Friedrichshafen. Von seiner Tätigkeit liest man nichts mehr. Der Landesausschuss löst sich einen Monat später, zum 31. März 1920, auf. Damit entsprechen sie dem Willen der SPD und der Mehrheit der Nationalversammlung, die Rolle der Räte auf betriebliche Interessenvertretungen zu reduzieren, die Betriebsräte, bloße Fortentwicklungen der seit 1891 freiwilligen und seit 1916 vorgeschriebenen betrieblichen Arbeiterausschüsse. Am 4. Februar 1920 tritt das Betriebsrätegesetz in Kraft, ein "Staatsbegräbnis erster Klasse für die Rätebewegung"47, im März werden in Friedrichshafen die Betriebsräte gewählt. Nur in der Rhetorik der linken Parteien leben die Arbeiterräte weiter. Die USPD veranstaltet vier Vorträge zum Rätesystem im Herbst 1919. Die KPD verkündet am 19. September 1919 die "künftige Herrschaft des Rätesystems"48. Im Mai 1920 propagiert sie nochmals massiv die "Wahl politischer Arbeiterräte"49. Noch im Februar 1933 wird von Seiten der KPD "schließlich die Forderung nach Errichtung der Arbeiter- und Bauernräte wieder laut"50. Drei Wochen später werden die örtlichen KPD-Führer verhaftet.