Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


Bis zur Revolution12

Der Krieg ist auch in Friedrichshafen begeistert begrüßt worden. Doch die Stimmung sinkt, als der versprochene Sieg Jahr um Jahr ausbleibt, die Arbeitszeit immer länger, die Lebensmittelversorgung immer schlechter und die zunächst guten Löhne der Rüstungsarbeiter durch die beginnende Inflation entwertet werden. Da die immer weiter zunehmenden und aus ganz Deutschland zwangsverpflichteten Arbeitermassen in der Stadt keine Unterkünfte mehr finden, müssen sie in Massenlagern, z. T. in benachbarten Städten, untergebracht werden. Viele der Arbeiter sind vom Militärdienst vorläufig freigestellt, müssen jederzeit damit rechnen, an die Front beordert zu werden. Ihre Opfer müssen ihnen fragwürdig scheinen, wenn sie von den großen Gewinnen der Firmen durch den Krieg erfahren und sehen müssen, wie gut es sich so mancher Kurgast noch gehen lassen kann, wodurch "der Unterschied zwischen Reich und Arm täglich ... bedrohlicher in Erscheinung"13tritt. Die Autorität der staatlichen Behörden schwindet, als sie die Verpflegung nicht mehr sicherstellen können, aber gegen Kritik massiv vorgehen. Die Aussagen über Klassengegensätze, über die Funktionen von Staat und Krieg, die die Sozialdemokratie vor 1914 verbreitet hatte, scheinen durch die Kriegserfahrungen wieder plausibel. Praktische Konsequenzen aus dieser Theorie zu ziehen, propagiert jetzt aber nur noch der linke Flügel der Arbeiterbewegung, die während des Krieges von der SPD abgespaltene Unabhängige Sozialdemokratie (USPD) und der ihr angehörende Spartakusbund. Diese Organisationen gewinnen ab 1916 unter den Friedrichshafener Arbeitern an Einfluss, so dass die Stadt und insbesondere die Flugzeugwerke bald von der Regierung "als der bedenklichste Gefahrenherd politischer Unruhen in Württemberg angesehen"14 werden. Eine Flugblattaktion im Juli 1916 zugunsten Karl Liebknechts bleibt noch isoliert, aber vom Jahresende 1916 an werden in etwa halbjährlichem Abstand Lohnforderungen immer dringlicher erhoben. Im Januar 1917 wird im Flugzeugbau erstmals gestreikt, ein weiterer Ausstand im Sommer nur durch staatliches Streikverbot verhindert. Im August 1918 drohen bereits Unruhen; eine Plünderung der Metzgerläden und besseren Gasthöfe können Wachen und Polizei gerade noch verhindern. Unter den Arbeitern verbreitet sich die Meinung: "Eine Regierung gibt es nicht mehr. Die Bestimmungen bestehen noch, aber regieren tut niemand mehr"15. Als sich die militärische Niederlage im Herbst nicht mehr verbergen lässt, sieht der größte Teil der Bevölkerung weitere Opfer als sinnlos an. Die Militärbehörden müssen "eine allgemein trostlose Verfassung der Gemüter, ja schlechtweg ... einen Niederbruch der Nerven"16feststellen, die im Mittelstand und auf dem Lande noch ausgeprägter als in Arbeiterkreisen sind. Der württembergische General von Ebbinghausen sieht ein: "Schluss um jeden Preis - war die Losung!"17 Offen revoltieren schließlich die Arbeiter und Soldaten und führen damit das Kriegsende, das Ende der Monarchie und die Republik herbei. Möglich ist dies aber nur, weil auch Landbevölkerung und Bürgertum, ja kein einziger Soldat und Offizier bereit sind, noch einen Finger für die Erhaltung des alten Systems zu rühren.

Die erste Friedensdemonstration in Friedrichshafen findet am 22. Oktober nach einer Betriebsversammlung beim Maybach-Motorenbau statt. Bei neuen sich steigernden Demonstrationswellen am 24. und 26. Oktober fordern die von 300 über 700 auf 4.000 anwachsenden Teilnehmer zunächst Frieden, dann die Republik, schließlich den Sozialismus. Nachdem Österreich am 3. November den Krieg beendet, sich in Kiel die Revolte zur Revolution ausweitet und am 4. in Stuttgart der Generalstreik ausgerufen wird, folgen die Friedrichshafener Arbeiter dem Stuttgarter Beispiel am 5. November. Sie wählen einen Arbeiter- und Soldatenrat durch Zuruf, einen der ersten in Deutschland. Eine Versammlung von 8.000 Mann lässt an das Innenministerium ihre Forderungen telegrafieren: sofortigen Frieden, Abdankung aller Dynastien, Regierungsübernahme durch die Räte, Sozialisierung, 7stündige Arbeitszeit, Demokratisierung des Heeres. Sie übernehmen damit die Ziele des Stuttgarter Arbeiterrats, die wiederum auf ein Manifest der württembergischen USPD vom 30. Oktober und einen Aufruf des Spartakusbundes vom 16. Oktober zurückgehen. Würden ihre Forderungen nicht erfüllt, seien die Friedrichshafener Arbeiter gewillt, sie "zu erzwingen und ggf. durch die Waffe der Revolution zu unterstützen"18. Die Stimmung sinkt am Tag danach, als bekannt wird, dass in Berlin der Generalstreik ausgeblieben ist. Da man nicht erfährt, dass die Revolution bereits die norddeutschen Städte, Frankfurt und München erfasst hat, nehmen die Friedrichshafener die Arbeit wieder auf. Einem forschen von Stuttgart nach Friedrichshafen entsandten staatlichen Sonderkommissar gelingt es durch die Verhaftung der Arbeiterräte fast, den Konflikt wieder anzuheizen, doch lässt das Amtsgericht die Verhafteten wieder frei. Am 8. November, als der Sieg der Revolution in Deutschland absehbar ist und in Stuttgart bereits eine neue parlamentarische Regierung unter Beteiligung der Sozialdemokraten gebildet wird, herrscht in Friedrichshafen wieder Ruhe.

Die Revolution wird in Friedrichshafen zwar früher als in den meisten anderen deutschen Städten gefordert, aber erst zwei Tage später gefeiert. Am 9. November, als in Reich und Land die Monarchien gestürzt, neue republikanische Regierungen unter Führung der SPD gebildet werden, tritt in Friedrichshafen nur der Arbeiter- und Soldatenrat wieder zu einer Sitzung zusammen, nun allerdings im Rathaus, und lässt das Landsturmbataillon entwaffnen. Der Sonntag, 10. November, wird zur Agitation benützt. "Bis in die entlegensten Gemeinden des Seebezirks wurden unsere Ideen durch Redner und Flugblätter getragen“19. Erst am Montag, 11. November, findet die große Revolutionsfeier statt: "Um halb zehn Uhr war Massenversammlung vor dem Saalbau, die Glockengeläute von beiden Kirchen aus ankündigte. In verschiedenen Ansprachen wurde die neue Staatsumwälzung gefeiert ... anschließend an diese Massenkundgebung fand ein großer Demonstrationszug durch die Stadt nach dem Rathausplatz statt, der die nach 8.000 bis 10.000 zählende Menge nicht fassen konnte und alle anschließenden Straßen füllte. Im Zuge, den Trommler und Stadtkapelle eröffneten, befanden sich so ziemlich alle Stände der Einwohnerschaft und viele Gäste von auswärts. Im einzelnen beteiligten sich hieran: Kriegsinvaliden, der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat, Matrosen des Kommandos LZ 72, der Maybach-Motorenbau GmbH, die Garnison Löwental, der Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Flugzeugbau Friedrichshafen GmbH, die Bodenseeflottille, die Angestellten des Zeppelin-Werks Lindau GmbH, Abteilung Seemoos, die Fliegertruppen, die Zahnradfabrik Friedrichshafen GmbH, die Flak-Truppen, die Gemeinde- und Staatsarbeiter und -angestellten, die Lederfabrik Hüni & Comp. und schließlich Ordnungsmannschaften. Nach Eintreffen des Zuges auf dem Rathausplatz wurde auf dem Rathaus die rote Fahne der Republik gehißt und mehrere Ansprachen gehalten, von denen jene des Generaldirektors Colsman besonderen Eindruck machte. Er bekannte sich u.a. zu der Tatsache, dass nichts uns retten könne, als die internationale Völkerverbrüderung und dass es Verdienst der Sozialdemokratie sei, wenn Deutschland gerettet werde. Wenn es je einen großen Tag in Deutschland gegeben habe, dann sei es der heutige. Um halb ein Uhr löste sich die Demonstration in vollster Ordnung auf"20.

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