In der Literatur werden im allgemeinen drei Rätemodelle unterschieden59:
Räte als Leitungsorgane und Ausdruck von Protestbewegungen,
Räte als wirtschaftliche und soziale Interessenvertretungen,
Räte als Selbstverwaltungsorgane einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft.
Der Friedrichshafener Arbeiterrat fungierte zunächst als vorrevolutionäres Kampforgan und strebte zumindestens verbal eine Funktion als nachrevolutionäres Selbstverwaltungsorgan an. De facto beschränkte er sich in der Zeit seiner legalen Existenz auf eine Rolle als Interessenvertretung. Von der Tätigkeit als Kontrollorgan gegenüber den lokalen Behörden sind zwar gegenseitiges misstrauen, aber keine konkreten Folgen bekannt. Am wichtigsten war wohl die Rolle als, wenn auch unerwünschtes, Aushilfsorgan der Stadtverwaltung, das deren Leistungs- und Legitimitätsdefizite ausglich. Damit besaß der Rat einen "objektiv systemstabilisierenden Charakter"60. Entsprechend den württembergischen Satzungsbestimmungen hat der Arbeiterrat so gut wie nie in die Kompetenzen der Stadtverwaltung eingegriffen. Obwohl die Funktionäre des Rates links von der SPD standen, haben sie nicht versucht, die Rolle des Rates auf Kosten der Stadtverwaltung zu stärken. Flehentlich schrieben sie am 13. November 1918 nach Stuttgart, um "Richtlinien" für ihre "Befugnisse"61. Es blieb bei der Verlautbarung des Stadtschultheißenamtes vom 15. November 1918: "Die gesamte Verwaltung auch in hiesiger Stadt nur von den bisherigen gesetzlichen Organen ausgeübt werden kann, welche in ... (bloßer, E. K.) Fühlungnahme mit den Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates die Geschäfte weiterführen"62.
Der Zwist zwischen den Arbeiterparteien über die weitere Rolle der Räte 1919 wurde zwar bisweilen auch in den Vollversammlungen ausgetragen, blieb aber vornehmlich Thema der Parteiversammlungen und hatte keinen erkennbaren Einfluss auf die Praxis des Arbeiterrats nach außen. Von den Anhängern der bürgerlichen Parteien im Arbeiterrat hören wir in der Regel nur, wenn sie in diesen Kontroversen mit den rechten Sozialdemokraten stimmten. Die Bauernräte als Vertreter der Landgemeinden nahmen ausschließlich wirtschaftliche Interessen der Landbevölkerung gegenüber dem Kommunalverband wahr und blieben vielfach den Sitzungen fern. Über den einzigen Soldatenrat wusste die Presse gar nichts zu berichten, der eigene Soldatenrat in Löwental wurde Ende Januar 1919 mit den fortschreitenden Entlassungen aufgelöst. Für die neugebildete Sicherheitskompanie war der Garnisons-Soldatenrat Weingarten zuständig. Im Gegensatz zu anderen Städten entstand in Friedrichshafen kein eigener Bürger- oder Volksrat. Auch die Aufforderungen des Oberamtmanns im Juni und Juli 1919, selbständige Bauernräte zu wählen, stießen auf keine Resonanz. Die Position des Bürgertums war nie ernsthaft bedroht. An die Eigentumsverhältnisse rührte niemand konkret, die Stadtverwaltung arbeitete in ungestörter Kontinuität weiter, die Sicherheitstruppen in Löwental vor der Stadt standen zum Schutz bereit. Zweimal, 1919 und 1923, bewaffneten sich die Bürger.
Ein konkretes Aktionsprogramm für Friedrichshafen hatten weder der Arbeiterrat noch die lokalen Arbeiterparteien oder die Gewerkschaften. Vor Ort leistete der Arbeiterrat konkrete Arbeit, die Parteien warben für ihre Ziele. Die Änderungen, das "Weitertreiben der Revolution" sollte von oben in Stuttgart und Berlin besorgt werden. Die Revolutionäre wollten nicht die Revolution hier und jetzt, sie sahen sich als Mithelfer, Unterstützer einer Revolution von oben. Sie schickten Telegramme, Briefe, Forderungen nach Stuttgart, blieben mit ihrer Praxis vor Ort im Rahmen des gesetzlich Vorgesehenen. USPD und Spartakusbund hatten die Führungsrolle in der Revolution in Friedrichshafen, aber zwischen Programm und Praxis vor Ort klaffte eine Kluft, sie propagierten ihre Programme und leisteten unbeeinflusst durch sie ihre konkrete Arbeit.
Revolution in Friedrichshafen? Die politischen Änderungen auf Gemeindeebene beschränkten sich auf die Erweiterung des Gemeindewahlrechts, Arbeiter waren nun im Stadtrat mit in der Regel einem Drittel der Sitze besser vertreten als vor dem Ersten Weltkrieg. Im Unterschied zur Landes- und Reichsebene hatte die Revolution für die Stadtregierung gar keine Folgen. Bis Mitte 1919 konnte der Arbeiterrat immerhin einen gewissen Druck auf die Stadtpolitik, insbesondere in der Wohnungsfrage ausüben. In den Betrieben wurden 1920 die vormaligen Arbeiterausschüsse durch Betriebsräte ersetzt und besser abgesichert. Die Arbeitszeit wurde gesetzlich auf 8 Stunden verkürzt. Alles erfreuliche, aber nicht gerade revolutionäre Errungenschaften. Angesichts der Erwartungen, da nun endlich Vertreter der Arbeiterparteien in Land und Reich mitregierten, waren die Enttäuschungen verständlich.
Es war auf lokaler Ebene keine politische und soziale Revolution, es war eine ökonomische und eine mentale, eine Revolution der Betriebe und Köpfe. Die ökonomische Revolution für Friedrichshafen hatte vor der Revolution, im Weltkrieg, stattgefunden mit der Expansion des Luftschiffbau-Konzerns. Auch nach den Entlassungen nach dem Krieg blieb das nunmehr erdrückende Gewicht des Konzerns, war Friedrichshafen eine andere Stadt, eine Industriestadt, geworden. Die Revolution Ende 1918 hatte in den Köpfen stattgefunden, es blieb ein Bewusstsein des Bruchs, ob eines unzureichenden oder eines zuweit gehenden. Bürger und Bauern sahen nur Chaos und Unsicherheit. Vielleicht war die Revolution in den Köpfen der Bürger und Bauern umwälzender als in den Köpfen der enttäuschten Arbeiter.
"Möglichkeitsmoment" der Geschichte63 wurde die Revolution auch in Friedrichshafen nicht, weil jede Seite den Erfolg der anderen verhinderte, beide die Vorstellung einer "pluralistischen Gesellschaft" mit all ihrer Problematik und ihrem Zwang zu Kompromissen ablehnten, und beide Seiten Maximalpositionen anstrebten, die einen in nostalgischer Erinnerung, die anderen in utopischen Hoffnungen.
Und doch: Konnte in den Vollversammlungen des Arbeiterrats, in den Sitzungen des Gemeinderats, wo Bürger, Bauern, Angestellte, Beamte und Arbeiter zusammensaßen und diskutierten, nicht vielleicht doch auch größeres Verständnis für Ängste und Probleme der anderen Gruppen sich in die Köpfe setzen? Dass es nicht gereicht hat, wissen wir. Die Hoffnungen des Arbeiterrats Corsten in seinen "Revolutionsbetrachtungen" erwiesen sich als illusorisch: "Gut ist es..., dass das Alte... so vollständig zusammenkrachte, dass sich die alten Gewalten niemals mehr hervorzutrauen wagen werden ... der deutsche Militarismus ist tot und nie wird er wieder auferstehen! Deutscher Geist ... soll befruchtend auf die gesamte zivilisierte Menschheit wirken"64.