Elmar L. Kuhn

Revolution und Räte 1918/19


Arbeiter und Bürger

Die Kräfteverhältnisse in der Stadt haben sich in den ersten Monaten nach der Revolution rasch und drastisch verändert. Innerhalb von zwei Monaten gehen die Arbeiterzahlen in der Stadt auf wenig mehr als ein Viertel zurück. Nun stehen einer Einwohnerschaft von etwa 11.000 Einwohnern nicht mehr etwa fast gleichviel fremde Arbeiter gegenüber, sondern sind nur noch etwa ein Drittel der in der Stadt wohnenden Berufstätigen beim Luftschiffbaukonzern beschäftigt, wozu noch etwa 800 Einpendler kommen. Diese Veränderungen des Kräfteverhältnisses registriert das "Seeblatt" erfreut: "Mit dem Abbau der Kriegsindustrie scheinen sich auch die Reihen der sozialdemokratischen Parteifreunde wesentlich gelichtet zu haben"52.

Verhält sich das Bürgertum gegenüber den vorrevolutionären Demonstrationen in Friedrichshafen "allzu gleichgültig und tatenlos"53, wie der preußische Gesandte in Württemberg berichtet, so erklären seine Repräsentanten in den ersten Tagen nach der Revolution ihre Bereitschaft,mit "den übrigen Kreisen der hiesigen Stadt zusammenzugehen" und sogar zum „planmäßigen, friedlichen, organisierten Zusammenwirken von Bürgerschaft und Soldaten- Arbeiter- und Bauernrat ... Nur Einigkeit kann uns vor dem Schlimmsten bewahren!"54 Bei den Gemeinderats-Ergänzungswahlen am 16. November nimmt der Katholische Männerverein sogar den SPD-Vorsitzenden Hänsler, der das Flugblatt zur Revolutionsfeier mitunterzeichnet hat, in seinen Wahlvorschlag auf. Hänsler wird daraufhin mit der höchsten Stimmenzahl gewählt, während die weiteren SPD-Kandidaten keine Chancen haben. Bei den Bürgerausschusswahlen am 14. Dezember finden sich bereits alle bürgerlichen Parteien zu einem gemeinsamen Wahlvorschlag gegen die SPD zusammen, die nun keine Kandidaten mehr durchbringt. Beide Wahlen erfolgen allerdings noch nach dem alten Wahlrecht, das nur 8 % der Bevölkerung das Stimmrecht einräumt.

Bis Anfang Dezember gewinnt das Bürgertum wieder an Selbstbewusstsein, rückt von der Revolution ab. In einer überfüllten "Massenkundgebung" aller bürgerlichen Parteien am 8. Dezember 1918 "zeigt ... das Bürgertum seine Macht und seine Kraft". Noch relativ zurückhaltend formuliert der Zentrumsabgeordnete: "Die deutsche Revolution ist entweder zwei Jahre zu spät oder ein halbes Jahr zu früh gekommen." Ein anderer Redner wird konkreter: "Der größte Feind unserer neuen Freiheit ist der Bringer der Revolution" und die Redaktion zieht den Schluss: "Werfen wir jetzt auch das Fremde hinaus, das wir innerhalb unseres Hauses haben"55. Einen Monat später spricht es der Zentrumskandidat und spätere württembergische Staatspräsident Bolz in "harten, schneidenscharfen Worten" deutlicher aus: "Uns ist die Revolution von Norden gebracht, ... äußerlich hat uns die Revolution auf Gnade und Ungnade den Feinden überliefert"56. Wiederholt wird diese Position im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung vom Zentrums-Arbeitersekretär: "Die Revolution hat uns nicht Freiheit, sondern Knechtschaft gebracht, sie hat der deutschen Front das Genick gebrochen und ... das Volk wehrlos gemacht; ... die Revolution war nicht notwendig, weil ja das Volksparlament schon vorhanden war"57. Damit wird die verhängnisvolle "Dolchstoß-Legende" verbreitet, als ob die Revolution zur deutschen Niederlage im Krieg geführt hätte.

Bei den Wahlen im Januar 1919 treten dann die Stärkeverhältnisse zutage. Die Arbeiterparteien erhalten 37 %, davon 32 % die SPD, fast doppelt soviel wie vor dem Krieg, die USPD nur 5 %, das bürgerliche Lager 63 %, davon 43 % das Zentrum, das damit die absolute Mehrheit verliert58. Die bürgerliche Hegemonie bleibt also erhalten, das Arbeiterlager umfasst eine starke Minderheit von etwa einem Drittel der Bevölkerung. Erstaunlich ist das schlechte Abschneiden der USPD, der Partei, deren örtliche Führer die vorrevolutionären Demonstrationen geleitet hatten und nun dem Arbeiterrat vorstehen.

Der starke Mann des Bürgertums ist der Generaldirektor des Zeppelin-Konzerns, der in der Revolution zunächst eine vermittelnde Rolle spielt, dann aber das Bürgertum bis zur Bewaffnung formiert und 1922 seinen Arbeitern die Aussperrung aufzwingt. Der Stadtschultheiß, der sich länger um Verständigung bemüht, was ihm Teile des Bürgertums verübeln, gibt sein Amt auf und stellt sich 1920 nicht mehr zur Wahl. Hardliner zusammen mit Colsman ist der Tettnanger Oberamtmann, der nach Kräften dem Arbeiterrat sein Wirken erschwert. Seinen Bemühungen ist es zu verdanken, dass in der ehemaligen Luftschifferkaserne vor der Stadt ab Frühjahr 1919 eine Sicherheitskompanie, die spätere Polizeiwehr, stationiert wird. Friedrichshafen ist von nun an eine belagerte Stadt. Nach dem Generalstreik wird diese Truppe noch durch die Bürgerwehr der Reserve-Sicherheitskompanie verstärkt.

Die Radikalisierung lässt sich an den Wahlergebnissen des Jahres 1920 ablesen: Innerhalb des immer noch ein Drittel umfassenden Arbeiterlagers überrundet die USPD mit 17 % die SPD, auf der anderen Seite gewinnt die DNVP fast 10 %, Zentrum und Liberale verlieren. Mit dem Verlust der Hoffnungen 1924 fallen die Arbeiterparteien auf ein starkes Viertel der Stimmen zurück, in die sich SPD und KPD teilen, bis in den zweiten Wahlen 1924 die SPD erstarkt. Am rechten Rand geben nun 5 % der Wähler der NSDAP ihre Stimme. Die großen politischen Lager mit ihrem Organisationsgeflecht igeln sich ein, das katholische Milieu mit seinen etwa 40 %, das Arbeiterlager mit nun noch etwa einem Viertel der Bevölkerung, die protestantische Gruppierung von etwa 20 % zerfällt Ende der 20er Jahre.

Friedrichshafen in der Weimarer Republik ist eine Stadt, um die Hälfte gewachsen gegenüber vor dem Krieg, es ist eine gespaltene Stadt mit einer unsicheren wirtschaftlichen Grundlage, abhängig vom Zeppelin-Konzern, eine Stadt, in der die Arbeiter an Einfluss gewonnen haben, aber Minderheit bleiben, intern politisch fraktioniert, misstrauisch bewacht von der Staatsmacht.

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