Fast fünfzig Jahre Frieden waren Oberschwaben gegen Ende des Jahrhunderts beschieden, die politischen Strukturen seit dem Westfälischen Frieden scheinen stabil und sind doch vielfach labil. Es gärt in manchen Städten und Territorien, Bürger beanspruchen gegen ihre Magistrate wieder mehr Mitsprache, Untertanen fügen sich nicht mehr gehorsam71. Exzessive Schulden belasten Städte und weltliche Herrschaften72, kaum die Prälaten, denen nun aber Aufklärer das Recht auf weltliche Herrschaft gänzlich absprechen. Kritischen Geistern, wie dem eingangs zitierten Wekherlin, kommt die ganze Kleinstaatenherrlichkeit bereits absurd vor. Die französische Revolution und die Revolutionskriege verstärken den Druck: Die Revolution ermutigt Bürger und Untertanen zu entschiedeneren Forderungen, die Kosten der Kreistruppen, des größten Korps, das Schwaben je aufgestellt hat, überfordern die Herrschaften. Nach der Besetzung Schwabens 1796 schließt der Schwäbische Kreis einen Waffenstillstand73, seine Mitglieder haben nun noch drückendere Kontributionen an die Franzosen zu zahlen. Baden und Württemberg schließen Sonderfriedensverträge, in denen sie sich Entschädigungen durch Säkularisationen für ihre linksrheinischen Verluste zusichern lassen. Auf dem nach dem Frieden von Campo Formio nach Rastatt einberufenen ‚Reichsfriedenskongress‛ stimmt die Reichsdeputation im Frühjahr 1798 Säkularisationen zu. Das Prinzip der ‚Reichsintegrität‛ wird aufgegeben. Die Reichsprälaten beraten sich und bleiben doch ratlos, der schwäbische Städtetag fühlt sich doppelt bedroht, durch innere Oppositionen und die den Städten drohende Mediatisierung74. Ermutigt durch das Beispiel der Helvetischen Republik versuchen oppositionelle Bürger der Reichsstädte die Verfassung Schwabens gänzlich zu revolutionieren in der Hoffnung auf französische Unterstützung: Ein Ulmer Bürger schlägt dem Direktorium in Paris die Bildung einer Schwäbischen Republik mit der Hauptstadt Ulm vor75.
In Straßburg erscheint 1798 eine 30-seitige Broschüre mit dem Titel „Von der Nothwendigkeit eines zu versammelnden Landständischen Kongreßes in Oberschwaben und dessen nüzliche Folgen“, dessen anonym bleibender Autor von der damaligen Diskussion gänzlich abweichende Vorschläge macht76. Für ihn steht bereits fest, dass als „Versöhnungsopfer der kriegführenden Mächte“ „die Säkularisierung vorgenommen werden sollte“ (4, 6). Über die aktuellpolitische Begründung hinaus finden sich in der Broschüre so ziemlich alle aufklärerischen Vorwürfe gegen die geistlichen Staaten versammelt, dass „eine Gattung privilegierter Menschen, die wie eine Landplage ganz Deutschland überzog, sich im Namen der heiligen Religion der schönsten Gefilde bemächtigte, bei dem Gelübde der Armut sich je länger je mehr vergrößerte, und auf Rechnung der Völker hin bei deren tauben Erstarren in Wollust lebte“ (6). In den geistlichen Staaten fänden sich „die gröbsten Regierungsfehler“. So besitze Oberschwaben „weder Fabrik noch Manufakturen“, hier hätten die Untertanen „als Knechte ihre mit harten Bedingnissen überlassene Güter [zu] bearbeiten, und den reichsten Profit davon an ihre Herren, die dafür Gott dienen“, abzugeben, auch seien hier „die mehrersten Bettler angetroffen“ (7). Die Kriegslasten würden ausschließlich auf die Untertanen abgewälzt und der Krieg ohnehin „vorzüglich aber wegen Aufrechterhaltung der geistlichen Staaten [...], als zur Erleichterung der Untertanen geführt“ (9). Die Folge dieser „Fesseln des vor Last in Schweiß liegenden Landmannes“ (11) seien „Trägheit, Erschlaffung, Verdrossenheit und Gleichgültigkeit“ (7).
Wenn aber durch die Säkularisation „das Religiöse und Politische“ (5) wieder getrennt werden, würden auch „fett gefütterte Mönche [...], die jetzt [...] zum Gelächter der Aufklärung einhergehen“ (27 f.) „wieder in den ehrwürdigen primitiven Zustand zurückkehren [...], in dem sie als Beispiel der Tugend, Demut und Andacht von der grauen Vorzeit verehrt wurden“ (6). Die Untertanen als „geistliche Fröhner“ werden daran erinnert, dass sie im Bauernkrieg schon einmal ihren „Regenten [...] fürchterlich“ waren (27). Schlimmer als zuvor könne es nicht werden, aber jetzt gelte es „Gleichgültigkeit, [...] Schwäche und Unvermögenheit“ (24) zu überwinden, jetzt werde in Rastatt über das zukünftige Schicksal entschieden, vor einem Entscheid dort gelte es, selbst über die Zukunft der Verfassung zu bestimmen: „Es ist wirklich der höchste Zeitpunkt, wo Ihr Euer Schicksal noch merklich erleichtern könnt: Einmal diesen versäumt [...] ist unwiderbringlicher Verlust [...] von den Ränken der Despotie gefesselt am Triumphwagen der entehrten Menschheit und aller willkürlichen Verfolgungen der giftigsten Aristokratie“ (24).
Einer Begründung der Abgrenzung Oberschwabens bedarf es offenbar nicht. „Kein Land (sei) zu einer affilierten Republik besser geschaffen [...] als Oberschwaben. Ein Land [...], das von der Grenze Tirols bis nach Ulm, südwestlich an die Schweiz und den Bodensee, östlich nach Augsburg an den Lech grenzen würde, müßte wegen seiner überwiegenden Lokal-Vorteile das übrige Schwaben in allen Rücksichten weit übertreffen, da es zwei große und ansehnliche Städte, den Handel nach Italien, der Schweiz und Bayern, schiffbare Flüsse, das fruchtbarste Erdreich, ein industriöses Volk, und eine Menge reicher Schätze von geistlichen Gütern in sich faßt“ (9). Auch die „militärische Lage sei [...] durch die Natur gesichert“ und ein „Volk, das nicht so sehr in seiner Sprache, Sitten, Gebräuchen und Verschiedenheiten unter sich geteilt“ sei, sei leicht zu vereinen (10).
Vorrangig denkt der Autor an die Untertanen der geistlichen Herrschaften. Aber er appelliert auch an die „in den Städten befindlichen freien Reichsbürger, denen die reichsstädtische Verfassung, seine Bürgerfähigkeit, und das Monopol des Alleinhandels so viele reelle und wesentliche Vorteile verschafft haben; so wird es diesen besonders obliegen, daß sie ebenfalls auf die Zusammenberufung eines allgemeinen ständischen Landtags nachdrucksamst dringen, um sich als integrierende an die übrigen übergehende und in die Entschädigung fallende Teile anzuschließen und gemeine Sache zu machen, damit nicht durch eine kleinliche Zerstücklung einige Stände aus Vorteil oder Privat-Absichten separat traktieren“ (14). Er erinnert an die verderblichen Folgen der Oligarchisierung und die Notwendigkeit einer „leichten revolutionären Bewegung“ als „Werk einer Wiedergeburt“. Da man sich aber ohnehin immer mehr „der Möglichkeit nähert, daß die Städte ihre Reichsunmittelbarkeit verlieren“ (26), sei es auch im Interesse ihrer Handelsbeziehungen, „zwischen Stadt und Land den engsten Verband“ herzustellen (15).
Auch die Untertanen der „im Oberland liegenden Grafschaften“ werden eingeladen, „wenigstens als Zuhörer diesem vaterländischen Kongreß bei[zu]wohnen“. Dass die Adelsherrschaften noch ungefährdet scheinen, könne ihre Herren zu „gebieterischem Ton“ ermuntern. So könne die Teilnahme auch dieser Untertanen sie „vor willkürlicher Behandlung bei einer allgemeinen Verbrüderung [...] schützen“ (29).
Der Autor erwartet, dass Oberschwaben oder mindestens die bisher geistlichen Gebiete und evtl. auch die Reichsstädte „unter der Fahne eines weisen neuen weltlichen Regenten vereinigt werden“ (7), er schließt aber auch nicht aus, dass es mehrere neue Herren werden (21). Rasch sollen Abgeordnete gewählt werden, der „oberländische landständische Kongreß“ soll als gleichberechtigter Partner dem neuen Herrn gegenübertreten und „eine vollkommene repräsentative Verfassung [...] wählen, die dem Landesherrn die Hände so eng bindet, daß er oder seine Agenten nicht gleich nach Convenienz handeln kann, die überdies unausgesetzt über die mit dem Landesherrn ausbedungene Freiheit wacht“ (28). Aufgabe der Ständeversammlung sei, „mit dem neuen Landesfürsten [...] einen festen, soliden und haltbaren Vertrag [zu] schließen, der genau bestimmt, was dem Herrn oder Land gehöre“ (12).
Zuvor haben die Abgeordneten eine Reihe von Grundsatzentscheidungen zu treffen:
„Die Errichtung einer dem Lande angemessenen Landesordnung. Unter dieser ersteht sich die bürgerliche und politische Verfassung, so das vollständige Gesetzbuch ausmacht“ (18).
„Ein allgemeines Steuer-System“,
Abschluss eines Militär-Akkords“ (21),
sowie eine Reihe von Einzelmaßnahmen, wie Abstellung aller Missbräuche, Entschuldung der alten Herrschaften, Abwahl der Beamten, Einführung gleicher Maße, Polizei-Anstalten, Feuerversorgung, Schulwesen.
Eine Reihe von Maßnahmen soll die feudalen Bindungen der Bauern zumindest lockern:
Aufhebung der Leibeigenschaft,
Erleichterung der Fronen,
Umwandlung aller Natural- in feste Geldabgaben,
Einschränkung der Jagdrechte,
alles Forderungen, die schon im Bauernkrieg erhoben wurden.
Die vom Autor vorgeschlagene Verfassung geht noch über ein dualistisches System von Ständen und Landesherren nach dem Vorbild Württembergs hinaus und nähert sich einer konstitutionellen Monarchie, da alle wesentlichen Grundentscheidungen von den Ständen zu treffen sind und ihnen auch ein Widerstandsrecht gegen den Landesfürsten zusteht: Bei einer Verletzung der Verfassung durch den Landesherrn seien auch die Stände und Bürger nicht mehr „an die Haltung des Paktierten gebunden [...], und folglich mit Abreichung der Abgaben so lange innehalten können, bis [sie] vollkommen wieder in den Genuß des Vertrags reintegriert“ werden (28 f.).
Es ist nach dem Bauernkrieg der zweite Versuch in der Geschichte, Oberschwaben von unten zu einigen und feudale Fesseln zu beseitigen, „alle alten Kränkungen und Übel [zu] verdrängen, die ehevor so lange die Geißel der Untertanen [...] waren“ (11) und ihn „bei stillem häuslichen Leben, ohne viele Kosten, eine bessere Regierung und mit ihr das Glück und den aufblühenden Wohlstand zuteil werden“ zu lassen (30).
Oberschwaben erscheint hier als eine festgefügte Bewusstseins- und politische Landschaft, als „Vaterland“ (29) vor wie nach der vorgeschlagenen Neuordnung. Das größere Schwaben spielt in der Argumentation keine Rolle, Oberschwaben soll als Teil eines großen Ganzen „den ersten Schritt vorwärts machen“ (6), und dieses größere Ganze ist Deutschland. „Deutschlands Energie“ soll erwachen, sein „Genius wieder sich mächtig emporschwingen, wenn er durch Konzentrierung einzelner Teile seine Verhältnisse vereinfacht“ (5).
Von irgendeiner Resonanz der Broschüre ist nichts bekannt, auch wenn von „ziemlich unruhigen Gesinnungen“ der Untertanen öfters zu lesen ist. Sie hat sich auch offenbar nur in einem Exemplar erhalten. Ihre Forderungen sind doppelt illusorisch, sie verkennt völlig die Selbstorganisationsfähigkeit eines bislang staatlich zerstückelten Raumes, dessen Vertreter zudem unter großem Zeitdruck umfassende Gesetzeswerke verabschieden müssten, aber auch die politischen Rahmenbedingungen, die einen solchen landständischen Kongress nie zulassen würden. Mehr Beachtung finden die Pläne für eine ‚Schwäbische Republik‛, für die 1799 schon Verfassungen vorbereitet und Kokarden verteilt wurden. Aber auch sie haben keine Aussicht auf Realisierung, nachdem sich die Franzosen distanzieren und lieber mit den größeren Landesfürsten paktieren77.
Zielt der Aufruf zu einem landständischen Kongress in Oberschwaben auf eine präventive Revolutionierung und Neuordnung von unten, so verfassen die kleinen weltlichen Landesherren in Oberschwaben unter dem Druck der persönlichen Gefährdung eigene defensive Neuordnungspapiere. Die erneute Besetzung Oberschwabens durch die Franzosen im zweiten Koalitionskrieg 1799 und 1800/01 mit ihren Requisitionen und Kontributionen treiben die oberschwäbischen Herrschaften nahezu in den „Banquerotte“. Anfang 1801 geht das Gerücht, Oberschwaben sei als Entschädigung für Bayern vorgesehen. Um einer Organisation nach altbayerischem Muster zuvorzukommen, lässt der Graf von Waldburg-Zeil Bayern einen Aufsatz über „Unvorgreifliche Grundsätze einer souveränen Regierungseinrichtung für Oberschwaben“ zukommen78. Er geht davon aus, dass Bayern nur eine Art Oberherrschaft ausübe und sonst alles beim Alten bleibe, da die bisherige Staats- und Regierungsverfassung Oberschwabens seiner Lage, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und seinem „National-Genie“ entspreche. Als Indiz führt der Graf den allgemeinen Wohlstand, die öffentliche Ruhe und das in der neuen Provinz waltende Glück an, eine von dem anonymen Autor von 1798 sehr abweichende Einschätzung. Auch die bisherigen Reichs- und unterschiedlichen Lokalgesetze bedürften keiner Änderung, da man mit ihnen gut fahre. Zum Kompetenzbereich einer Provinzialversammlung gehöre in erster Linie die Beseitigung der Schuldenlast sowie „Handel und Wandel, die innere Landespolizei, das Industrie- und Fabrikwesen, auch das Schulwesen“. Doch gewähren Frankreich, Russland und die Reichsdeputation 1802/03 den kleinen weltlichen Reichsständen nochmals eine Gnadenfrist. Da die elf westfälischen Grafen, denen die geistlichen Herrschaften in Oberschwaben zugesprochen werden, eine westfälische oder ‚neuschwäbische‛ Grafenbank bilden, kommt es sogar zu einer im Unterschied zum Schwäbischen Prälaten-Kollegium nur auf Oberschwaben beschränkten, allerdings nur kurzlebigen neuen Herrschafts-Korporation79.
Als die vergrößerten neuen Mittelstaaten Württemberg, Baden, Bayern, aber auch Österreich für ihre schwäbischen Lande eigene Landesbistümer und damit die Auflösung des Bistums Konstanz anstreben, glauben sich auch die schwäbischen katholischen Fürsten und Grafen gezwungen, ein eigenes Bistum zu errichten. Der nunmehrige Fürst von Waldburg-Zeil gibt eine von ihm verfasste Denkschrift mit dem Bistumsplan in Druck, in der er die Gebiete aufzählt, die die neue Diözese umfassen soll, bis auf Öttingen, Hechingen und St. Blasien ausschließlich oberschwäbische Herrschaften. Auch dieser Plan wird von den Ereignissen eingeholt80.
Nach der österreichischen Niederlage im dritten Koalitionskrieg und seit dem Frieden von Preßburg 1805 haben die kleinen Stände keine Überlebenschance mehr. Zwar werden noch Anfang 1806 Pläne diskutiert, Schwaben in drei ‚Influenzgebiete‛ von Baden, Württemberg und Bayern aufzuteilen und sogar der Vorschlag ventiliert, aus den mindermächtigen schwäbischen, also vor allem oberschwäbischen Reichsständen kraft einer Konföderation einen eigenen vierten Kreisdistrikt und damit einen eigenen Staat zu bilden81. Aber mit der Rheinbundakte vom Juli 1806 heißt es: „principatibus et diis minorum gentium consumatum est"82. Mit der Mediatisierung der Adelsherrschaften nach der Säkularisierung der Klosterherrschaften, der Mediatisierung der Reichsstädte und der Abtretung Schwäbisch-Österreichs wird der Kleinstaatenwelt Oberschwabens und damit seiner spezifischen politischen Struktur ein Ende bereitet. Oberschwaben wird auf die drei Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Baden und den Kleinstaat Hohenzollern-Sigmaringen aufgeteilt.