Elmar L. Kuhn

Oberschwaben - eine Region als politische Landschaft ...


Bauernkrieg: Die Revolution für den bündischen Staat

Nachdem den Herrschaften in Oberschwaben aufgrund ihrer Organisationen zumindest ein rudimentäres Regionalbewusstsein zugeschrieben werden kann, stellt sich die Frage, inwieweit sich auch bei den Untertanen entsprechende Indizien finden, denen ja gemeinhin nur ein lokaler Handlungs- und Denkhorizont zugebilligt wird.

Gegen den Territorialisierungsprozess auch in den oberschwäbischen Kleinherrschaften versuchen im 15. und frühen 16. Jahrhundert die Untertanen gütlich, durch Huldigungs- und Leistungsverweigerung bis hin zu Drohungen mit bewaffneten Aktionen Rechtsverschlechterung zu verhindern oder Verbesserungen zu erreichen. Mit ihrem Bezug auf das jeweilige ‚alte Recht‛ bleiben all diese Bewegungen isoliert und auf die jeweilige Herrschaft beschränkt. Die Reformation erschüttert die Autorität der Kirche, die Verkündigung des Evangeliums „lauter und klar one allen menschlichen zusatz“ wird verlangt. Aus der Hl. Schrift leiten die Bauern das ‚göttliche Recht‛ als neues innerweltliches Rechtsprinzip ab, an dem sie Herrschaftsrechte messen und verwerfen. Das göttliche Recht ist gleich für alle Menschen, es ermöglicht den Aufstand über Herrschafts- und Ständegrenzen hinweg. Anfang Februar 1525 versammeln sich die Bauern des nördlichen Oberschwabens erstmals in Baltringen, Mitte Februar geben die Kemptener Untertanen den Rechtsweg gegen ihren Abt auf und schließen sich mit ihren Nachbarn Ende Februar zum Allgäuer Bund, bald zur ‚christlichen Vereinigung der Landart Allgäu‛ zusammen. Zur gleichen Zeit verbinden sich Bauern und Kleinstädter im südlichen Oberschwaben zum Seehaufen. Der Schwäbische Bund verhandelt, lässt sich die Beschwerden vorlegen und sucht Zeit zu gewinnen, da er sein Heer für die Abwehr Herzog Ulrichs von Württemberg braucht. Der ‚Bauernkrieg‛ ist nicht nur ein Aufstand von Bauern, sondern die „Revolution des gemeinen Mannes“ auf dem Lande und in den Kleinstädten, der traditionelle Begriff wird hier nur der Kürze halber weiterverwandt37.

Von 6. bis 8. März tagen Gesandte aller drei Haufen in der Kramer-Zunftstube in Memmingen, schließen sich zur ‚ehrsamen Landschaft der christlichen Vereinigung‛ zusammen und verabschieden Bundes-, Landes-, Predigtordnung und Schwörartikel38. Der Schwäbische Bund sucht mit den einzelnen Haufen getrennt zu verhandeln, aber sie lassen sich „nicht voneinander sondern“. Bei einer zweiten Sitzung des Bauernparlaments in Memmingen Mitte März übergeben die Abgeordneten den Städtevertretern als Vermittler die Zwölf Artikel39, in denen sie ihre Beschwerden zusammengefasst haben und eine Liste der Reformatoren, die darüber nach dem göttlichen Recht entscheiden sollen. In einer dritten Sitzung um den 20. März wählen sie eine Delegation von je zwei Vertretern jedes Haufens, die in Ulm mit der Bundesversammlung verhandeln soll. Doch der Bund fordert von den Bauern, alle Bündnisse aufzukündigen. Paritätisch zusammengesetzte Schiedsgerichte sollen die Streitigkeiten der Untertanen mit ihren jeweiligen Obrigkeiten schlichten. Diese Zumutung lehnt das vierte Bauernparlament Ende März in Memmingen ab. Die Verhandlungen scheitern, auch wenn die Städtevertreter und zuletzt das Reichsregiment sich weiterhin bis Mitte April um eine gütliche Einigung bemühen. Der Schwäbische Bund hat Verhandlungen nicht mehr nötig. Am 24. März trifft das Bundesheer bei Ulm ein. Am gleichen Tag beginnen die Versuche der Bauern, ihre Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Am 2. April, mit Ablauf des Waffenstillstandes, setzt sich das bündische Heer in Marsch, am 4. April schlägt es in Leipheim den ersten Bauernhaufen. Mitte April zieht es nach Süden und zersprengt den Baltringer Haufen in einer Reihe von Einzelgefechten. Entgegen der Bundesordnung kommen den Baltringern weder Allgäuer noch Seebauern zu Hilfe. Als sich die Baltringer auf Gnade und Ungnade ergeben, huldigen und schwören, sich von den anderen Haufen zu trennen und ihr Bündnis aufzulösen, melden die Oberallgäuer dem Seehaufen, dass „der Baltringische Haufen von uns abgefallen sei“. Nach etwas mehr als einem Monat Bestand wird durch militärische Gewalt die ‚christliche Vereinigung‛ zerschlagen, nachdem sich ihre Führer schon zuvor nicht auf ein einheitliches Vorgehen gegen die Herren einigen konnten.

Gegenüber den starken Seebauern vor Weingarten, denen Allgäuer und Hegauer zuziehen, wagt der Feldherr Truchsess Georg von Waldburg die offene Schlacht nicht. Am Ostermontag, 17. April, und endgültig am 22. April schließen der Feldherr mit seinen Obristen und die Vertreter des See- und Niederallgäuer Haufens den Weingartner Vertrag. Den Aufständischen wird Straflosigkeit und Prüfung ihrer Beschwerden durch Schiedsgerichte gegen Auflösung ihres Bündnisses und Anerkennung ihrer bisherigen Verpflichtungen zugesichert40. Die Oberallgäuer bitten sich Bedenkzeit aus, lehnen den Vertrag aber Anfang Mai ab. Ihnen schließen sich auch die Niederallgäuer wieder an und beide setzen ihre militärischen Aktionen fort, derweil das Bundesheer seine Blutspur durch Württemberg und Franken zieht. Immer wieder fordern die Allgäuer die Seebauern unter Berufung auf ihre ‚Vereinigung‛ zum erneuten Aufstand und zur Hilfe auf. Doch der Seehaufen lässt sich auf kein erneutes Bündnis ein, hält aber seine eigene Organisation weiter aufrecht. Immerhin beschweren sich Ende Mai „alle Plätze der beiden Haufen Allgäu und Bodensee“ beim Schwäbischen Bund über Strafaktionen gegen Bauern an der oberen Donau. Erst als Mitte Juli das Bundesheer den Aufstand im Allgäu blutig niederschlägt, scheinen auch die Seebauern ihre Organisation aufgelöst zu haben, aber noch im Oktober wollen sich Räte und Führer „weiland des vergangenen Aufruhrs des Haufens am Bodensee“ treffen, um die Revolutionsunkosten ordentlich abzurechnen41.

Die Zwölf Artikel sind „Beschwerdeschrift, Reformprogramm und politisches Manifest“ der oberschwäbischen Bauern zugleich. Ihre Durchsetzung hätte revolutionäre Konsequenzen gehabt: „konkret durch die Leibeigenschafts-, Zehnt- und Pfarrerwahlartikel, grundsätzlich durch die Inanspruchnahme des Evangeliums als gesellschafts- und herrschaftsgestaltendes Prinzip“42. Feudale Herrschaft wäre entscheidend geschwächt, geistliche Herrschaft ganz beseitigt worden.

Bundes- und Landesordnung entscheiden vorläufig, wie mit den Abgaben zu verfahren sei, suchen den inneren Frieden zu wahren, regeln das Verhalten im Feld vom Alarm bis zur Beuteverteilung und enthalten bereits Elemente einer zukünftigen Verfassungsordnung. Jeder „gemeine Mann“ in der Gemeinde hat Mitglied in der Vereinigung zu werden, „Stadt - oder Dorfleute“ gleichermaßen, auch Handwerker und ebenso Dienstleute der Herren, um zu schwören, „die himmlische Wahrheit, göttliche Gerechtigkeit und brüderliche Liebe zu handhaben“. Kosten und Lasten sollen „brüderlich“ je nach Vermögen umgelegt werden.

Die Selbstorganisation der Bauern erfolgt in mehreren Stufen. Unterste Grundeinheit sind die in den Artikeln geforderten starken Gemeinden (Stufe 1). Die Bauern mehrerer Gemeinden finden sich in ‚Plätzen‛, Marktflecken, Kleinstädten oder anderen zentralen Orten zusammen (Stufe 2). Im Seehaufen operieren mehrere Plätze zusammen in den Abteilungen des Rappertsweiler, Bermatinger und Altdorfer Haufens, der Allgäuer Haufen setzt sich aus Ober- und Nieder-Allgäuern zusammen, bei den Baltringern unterscheidet man nach dem unteren und oberen Baltringer Haufen (Stufe 3). Die drei Haufen der Baltringer, Allgäuer und Seebauern (Stufe 4) bilden gemeinsam die ‚christliche Vereinigung‛ (Stufe 5). Alle Amtsträger werden gewählt, die Vorsteher der Gemeinden, Räte und Hauptleute der Plätze, Obristen und Räte der (Abteilungs-)Haufen. Die drei Obristen zusammen mit ihren je 4 Räten „sollen Gewalt haben mitsamt anderen Obersten und Räten zu handeln, wie es sich gebührt“. Obristen und Räte der Haufen zusammen mit Hauptleuten und Räten der Plätze bilden das Memminger Bauernparlament, die ‚ehrsame Landschaft der christlichen Vereinigung‛. „Die Bezeichnung als ‚Landschaft‛, die Bindung durch Eid, der Anspruch, auf Dauer zu bestehen und auch die Herren zu integrieren, deuten darauf hin, dass die ‚Christliche Vereinigung‛ eine Eidgenossenschaft in Oberschwaben anstrebte [...]. Es soll ein genossenschaftlicher Bund auf kooperativer Grundlage aufgebaut werden [...]. Dieses ‚Modell einer kooperativ-bündischen Verfassung‛ sollte die patriarchalisch-obrigkeitlich strukturierten ‚Kleinstaaten‛ ersetzen und damit die ‚kleinräumigen feudalen Herrschaftsgebiete‛ auflösen zugunsten eines größeren, auf dem Wahlprinzip aufbauenden Verbandes“43. „Zur Republik war wahrhaft nur noch ein kleiner Schritt“44. Mögliche Vorbilder sind nicht nur in der Eidgenossenschaft, genauer noch in Graubünden, zu erkennen. Strittig ist derzeit, ob die Zwölf Artikel und die Bundesordnung in Oberschwaben selbst entwickelt wurden oder auf oberrheinische Entwürfe zurückgehen45.

Der Vollbauer ist wirtschaftlich relativ autark, er produziert weitgehend, was seine Familie verbraucht. Subsistenz, der Erhalt der ‚gemeinen Notdurft‛ ist sein Ziel. Aber alle Bauern im Dorf müssen zusammenwirken, um Aussaat, Ernte, Weide, Allmende zu regeln, Wege und Stege zu unterhalten. Die Dorfgemeinde hat im Spätmittelalter ihre Kompetenzen beträchtlich ausweiten können, sie wählt ihre Organe, das Dorfgericht wahrt den Frieden, urteilt vielfach über lokale Streitigkeiten und kleinere Straffälle. Doch sind die Bauern auch in Marktbeziehungen integriert. Sie müssen einen Teil ihrer Erzeugnisse verkaufen, um ihre Geldabgaben zu bezahlen und müssen bestimmte Güter kaufen, die im Dorf nicht hergestellt werden. Die Dörfer sind auf einen ‚Standardmarkt‛ in einem Marktflecken oder einer Kleinstadt orientiert, der alle bäuerlichen Bedürfnisse befriedigen kann. „Die Marktregion [...] ist die grundlegende Einheit bäuerlichen Wirtschaftens“46. Das soziale Beziehungsnetz der Bauern ist tendenziell auf das Einzugsgebiet dieses Marktortes beschränkt. Auch herrschaftliche Verwaltungs- und Gerichtssitze, Sammelstellen für Abgabenlieferungen und im Streusiedelgebiet die Pfarrorte sind Zentren bäuerlicher Kontaktnetze. Hof, Gemeinde und die durch Markt, Herrschaft und Kirche bestimmte Kleinregion sind entscheidende Handlungs- und Bewusstseinsräume der Bauern. Der Radius einer Kleinregion im Umland eines Marktortes überschreitet in der Regel 10 bis 15 km nicht. Die ‚Plätze‛ sind Mittelpunkte solcher klein(st)regionaler Kontakträume. Neben Marktflecken und Kleinstädten werden vielfach auch Kleinzentren der Herrschafts-, Gerichts- und Kirchenorganisation als Sammelplätze gewählt. Die Bürger der kleinen Reichsstädte nehmen von Anfang an am Aufstand teil, manche freilich erst auf Druck benachbarter Bauern. Dass sich der Seehaufen besonders kleinräumig organisiert, mag an der höheren Bevölkerungsdichte und der besonders starken Marktintegration des Weinbaugebiets liegen.

Im Bereich des Seehaufens sind von 73 Führungspersonen die Namen bekannt47, von etwa der Hälfte lässt sich der soziale Status ermitteln. Es sind zum größten Teil mittlere und größere Bauern, allein dreizehn Ammänner, drei herrschaftliche Verwaltungspersonen, drei Müller - schon auf dieser Ebene oberhalb des Dorfes treffen wir also vielfach auf ‚Broker‛ mit weiträumigen Kontakten, Vermittler zwischen den bäuerlichen und übergreifenden wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und kirchlichen Ebenen48. Auf den nächsten Ebenen der (Abteilungs )Haufen werden die Bauern fast durchweg von mit dem bäuerlichen Milieu verbundenen, aber ihm nur bedingt zugehörigen Personen geführt. Obrist des Baltringer Haufens ist der Schmied Ulrich Schmid, sein Schreiber der Kürschnergeselle Sebastian Lotzer. Die Allgäuer führt und agitiert Jörg Schmid gen. Knopf, Sohn eines Schmieds, deklassiert als Färbergeselle in der Stadt Kempten. Von den anderen drei Feldhauptleuten sind keine außerbäuerlichen Funktionen bekannt, außer dass Pauli Probsts Vorfahren herrschaftliche Verwaltungsfunktionen wahrnahmen. Den Seehaufen vertritt Junker Hans Jakob Humpis von Senftenau, nach 1525 Amtmann des Stifts Lindau und Vogt des Bischofs von Konstanz. Die Unterabteilung des Rappertsweiler Haufens führt der Junker, Gutsbesitzer und Kaufmann Dietrich Hurlewagen mit einem Pfarrer als Schreiber, den Bermatinger Haufen der Müller Eitelhans Ziegelmüller, vor und nach 1525 österreichischer Amtmann, mit einem Überlinger Vogt als Schreiber.

Die Haufeneinteilung orientiert sich offensichtlich an Markteinzugsbereichen oberhalb der Ebene der ‚Standardmärkte‛, am deutlichsten im Gebiet des Seehaufens. Der Rappertsweiler Haufen liegt im Einflussgebiet Lindaus, der Bermatinger Haufen im Umland Überlingens, die nördlich davon gelegenen Plätze im Ravensburger Umland. Im Gebiet des oberen Baltringer Haufens ist Biberach, beim unteren Haufen südlich Memmingen die dominante Marktmetropole, nördlich wohl Ulm. Die Oberallgäuer orientieren sich nach Kempten, bei den Niederallgäuern überschneiden sich die Einzugsbereiche von Wangen, Isny und Leutkirch.

Dürften die Haufengrenzen durch die Erfahrungs- und Kontaktbereiche der Bauernführer bestimmt werden, so bleibt die Frage, welche Raumerfahrungen den Organisationsbereich der ganzen ‚christlichen Vereinigung‛ nach außen begrenzen. Es mag verwundern, dass gerade die Marktorte dritter Stufe, die ‚Oberzentren‛ Augsburg und Ulm sowie die vergleichsweise ebenfalls bedeutende ‚Mittelstadt‛ Konstanz räumlich und sachlich peripher für die bäuerliche Organisation bleiben. Die Grenzen auf drei Seiten mögen durch andersartige politische Strukturen und divergentem politischem Bewusstsein bedingt sein, im Norden und Osten die Großterritorien der Herzogtümer Württemberg und Bayern, im Süden die Eidgenossenschaft. Im Westen schließen sich Räume vergleichbarer politischer und wirtschaftlicher Struktur an, dennoch bleiben die Kontakte zu den dort operierenden Hegauer und Schwarzwälder Bauern spärlich. Im April sollen die Hegauer den Seebauern vor Weingarten zu Hilfe gezogen sein, aber im Mai fürchten sich die Linzgauer Bauern vor einem Überfall der Hegauer Nachbarn. Blickle versucht nachzuweisen, dass die Zwölf Artikel und die Bundesordnung gemeinsames Programm der Bauern von Oberschwaben bis in das Elsass gewesen seien49. Zwar im Breisgau und im Elsass, nicht aber im Hegau und im Schwarzwald lässt sich eine auf Dauer angelegte, mehrstufige bündische Organisation wie in Oberschwaben erkennen. Die Schwarzwälder und Hegauer organisieren sich in großen mobilen Haufen, kaum im Vorgriff auf eine zukünftige politische Organisation, sondern vorrangig im Hinblick auf ihre militärischen Operationen, die sie ähnlich wie die Allgäuer kreuz und quer durch ihre Region führen. Aus der Ferne verschwimmen die Differenzen: Anfang Mai bitten die Württemberger den „ganzen hellen Haufen der christlichen Versammlung im Allgäu, Bodensee und Schwarzwald“ um Hilfe.

Viermal treffen sich die Abgeordneten der Haufen in Memmingen, als Sitz des Bauernparlaments wird es einen Monat lang ‚Hauptstadt‛ Oberschwabens. Memmingen ist den Forderungen seiner bäuerlichen Untertanen am weitesten von allen Städten entgegengekommen. Der Rat freut sich nicht gerade über die unangemeldeten Zusammenkünfte, räumt aber auf Druck der Gemeinde die Kramerzunftstube als Tagungsort ein. Ulrich Schmid kommt nach Memmingen, weil er hofft, hier Personen zu finden, die ihm Gelehrte benennen können, welche das göttliche Recht gegenüber dem Schwäbischen Bund interpretieren. Dem Rat nennt die ‚Versammlung der Bauernhauptleute‛ als Grund für die Ortswahl „um die gelegene Mahlstatt willen“, die günstige Lage der Stadt. Memmingen ist mit 5.000 Einwohnern die größte Stadt zwischen Augsburg, Ulm und dem See. Seine wirtschaftliche Einflusszone, insbesondere im Textilgewerbe, reicht westlich in Nordoberschwaben weit über die Iller bis Saulgau, südlich im Allgäu über Kempten hinaus bis Leutkirch. Zum See führt die wichtige Salzstraße. Dorthin exportiert es auch Getreide und bezieht Seewein von dort. So reichen die Beziehungen Memmingens in die Bereiche aller drei Haufen hinein, für seine Wahl als Versammlungsort sprechen nicht nur die Haltung des Rats, sondern auch seine zentrale Stellung im wirtschaftlichen Verflechtungsnetz50.

In keinem Schriftstück geben die oberschwäbischen Bauern ihrer Vereinigung einen landschaftsbezogenen Namen. Im Schreiben vom 7. März an den Schwäbischen Bund bezeichnet sich das Memminger Bauernparlament als „Ausschuß und Gesanten gemainer Landschaft von den Huffen von Algäu, Bodenseer und Baltringer“51. In der Bundes- und Landesordnung firmieren sie als „ersame Lantschaft der christenlichen Vereinung52. Nur die Allgäuer verkünden in ihren Artikeln vom 24. Februar 1525, dass sie sich „im Land und sonder im Oberland jetzt veraint und verbunden haben53. Auch die Bauerngegner schreiben meist von den drei Haufen oder benennen sie als „Haufen vom Allgäu, Bodensee und Baltringen“, die Städter variieren sogar einmal die Selbstbenennung der Bauern als „Landschaften von dem haufen vom Algau, Bodensee und Baltringen54. Nur gelegentlich verwenden Bundesvertreter Bezeichnungen wie „Bauernschaft allhie obern Schwaben [...] dye oberlandische, oberlandische Bauern“und nur ein Chronist kennt das „obern Schwabenland oberhalb Memmingen und Augsburg55. Ein auswärtiger Gesandter schreibt von der „bauerschaft zu Schwaben“, wenn er das aufständische Oberschwaben meint: „von Augspurg aus zwischen dem gepirg und Thonau biß gein Ulm und von dan zwischen gemelten gepirg und dem Fursthentumb Wirtemperg bißhs an Bodensee56. Auch der Schreiber des Truchsessen, der es besser wissen muss, pauschalisiert als „die drey haufen in Schwaben“, wenn er nur von Oberschwaben berichtet 57.

Eine griffig-eingängige Benennung haben weder die Bauern noch ihre Gegner für die ‚christliche Vereinigung‛ gefunden. Aber reale militärische Organisation und kooperativ-bündisches Verfassungsmodell sind ohne ein gesamtoberschwäbisches Gemeinschaftsbewusstsein zumindest der bäuerlichen Eliten nicht denkbar. Die Verhandlungspartner, die Städte, gruppieren sich analog in ihrem gemeinsamen Auftreten als die ‚oberen Städte‛. Auch ohne klare Benennung ist Oberschwaben im Bewusstsein und in seinen realen Beziehungen klar abgegrenzt als Raum zwischen Donau und Bodensee, Lech und Hegau. Bezeichnungen wie Landschaft, Landart, Landesordnung setzen ein Landes- oder Regionalbewusstsein voraus.

Aus der meist additiven Bezeichnung als die drei Haufen und ihrer kollektiven Führungsspitze lässt sich jedoch auch schließen, dass die inneroberschwäbische Gliederung in Allgäu, Bodenseegebiet und Nordoberschwaben im Bewusstsein und in den wirtschaftlichen Beziehungen ein vergleichbares Gewicht hatte. Der Erfahrungsraum der Bauern überschritt normalerweise die Grenzen der Haufen und damit den Markteinzugsbereich der oberschwäbischen größeren Städte nicht. Zum Denken und Handeln im gesamtoberschwäbischen Rahmen fanden selbst die Führer der Bauern nur kurzfristig zusammen. Die Teilregionen hatten sich auch bereits in den Adelsbündnissen abgezeichnet. Ob es noch Kontakte und Bezüge nach Westen gegeben hat, wo sich die politische Kleinräumigkeit fortsetzte und wo deshalb identische politische Verfassungsvorstellungen existierten, muss offen bleiben. Die überterritoriale Eidgenossenschaft, der ‚genossenschaftlich-bündische Staat‛, ‚Turning Swiss‛, ‚Schweizer werden‛, war wohl eher eine Befürchtung der Herren, als bewusstes Ziel der Bauern58. Andersartige politische Strukturen grenzten Oberschwaben auf zwei bzw. drei Seiten ab, die interne bäuerliche Raumorganisation übersprang die herrschaftliche Zersplitterung, die bestenfalls noch gelegentlich die Platzwahl bestimmte, und orientierte sich vor allem an wirtschaftlichen Verflechtungen. Dass sich die großen Städte als Mittelzentren bei allen Sympathien mancher Gemeinde und allen Versuchen zu schlichten, einem Bündnis mit den Bauern versagten, war mitentscheidend für deren Niederlage, ohne sie wäre die oberschwäbische Eidgenossenschaft nur schwer denkbar gewesen. Aber auch die schweren daraus entstehenden Konflikte wären bei einem Zusammenschluss leicht voraussehbar gewesen.

Die ‚christliche Vereinigung‛ blieb der einzige konkrete Versuch in der Geschichte, Gesamt-Oberschwaben als eigenen Staat zu konstituieren. Das Feldzeichen der christlichen Vereinigung, das rot-weiße, von einem weiß-roten Andreaskreuz überlagerte Fähnlein, ist das einzige gemeinsame heraldische Symbol, der Titelholzschnitt der Bundesordnung das einzige Bildsymbol für Gesamt-Oberschwaben in dessen ganzer Geschichte59. Der bäuerliche Bundesstaat Oberschwaben scheiterte, es blieb beim Staatenbund der Herrschaften. Die feudalen Herrschaften in Oberschwaben strebten nie mehr als lockere Bündnisse zum Erhalt ihrer Selbständigkeit an, die einzige Bewegung für eine politische Einheit Oberschwabens ging ‚von unten‛ aus, nicht die Herrschaften, der ‚gemeine Mann‛ artikulierte einen entschiedenen regionalen Gestaltungswillen.

Copyright 2024 Elmar L. Kuhn