Schwaben blieb von seinen Anfängen bis heute sowohl politische als auch Bewusstseinslandschaft. Es gab im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit einen ‚Landes-Diskurs‛ mit einer Fülle von Publikationen seit dem späten 15. Jahrhundert83. Schwaben war noch im Spätmittelalter eine Rechtsgemeinschaft und organisierte sich mit dem Schwäbischen Kreis der frühen Neuzeit auch wieder dauerhaft politisch. Im 18. Jahrhundert diskutierten Publizisten den schwäbischen ‚Nationalcharakter‛ und damit die regionale Identität, beschworen Stammes- und Landespatriotismus84. Für Oberschwaben fällt ein Resümee schwerer. Dass Oberschwaben mit seiner „Vielfalt und der Kleinräumigkeit des Politischen“ spezifische Strukturen aufwies, beschreiben nicht nur spätere Historiker, sondern war auch den Zeitgenossen bewusst, aber ein Landes- bzw. Regionaldiskurs fand kaum statt. Eigene Beschreibungen Oberschwabens, wie sie für Gesamtschwaben, aber auch für das Bodenseegebiet gedruckt wurden, gibt es nicht. Nur wenige Bücher vor 1800 führen Oberschwaben bzw. das ‚Oberland‛ im Titel. Der Leutkircher Gabriel Furttenbach schilderte in seiner „Oberländischen Jammer- und Strafchronik“ 1669 fast nur Kriegsereignisse im Allgäu85. Ein Engländer schilderte seine Erfahrungen einer Reise durch „Ober-Schwaben“86. Die einzige Karte Oberschwabens „Alemaniae sive Sueviae superioris Chorographia“ ließ Christoph Hurter 1625 drucken87. An Karten Schwabens und des Bodenseegebiets mangelte es im 17. und 18. Jahrhundert nicht. Die Entwicklung von Landvogtei und Landgericht und ihre Konflikte mit ihren Nachbarn über die Jahrhunderte hin breitete Johann Reinhard Wegelin in seinem „Gründlich-Historischer Bericht Von der Kayserlichen und Reichs Landvogtey in Schwaben wie auch Dem Frey Kayserlichen Landgericht auf Leutkircher Haid und in der Pirß“ 1755 minutiös aus und widmete so immerhin der Institution eine eigene Monographie88, die den politischen Rahmen Oberschwabens von Beginn an absteckte und deren Superioritätsstreben fast den roten Faden der regionalen Geschichte bildete.
Die herrschaftliche Zersplitterung und die Abwehr des Expansionsstrebens größerer Nachbarn zwangen die Kleinterritorien zu immer neuen Zusammenschlüssen von der spätmittelalterlichen Adelsgesellschaft bis zu den Kreisvierteln, ständischen Kollegien und Ritterkantonen. Diese „Region verdichteter politischer und sozialer Beziehungen“89lässt zumindest auf ein Bewusstsein von regionaler Interessenidentität bei den Herrschaften schließen. Dass ein regionales Bewusstsein auch in der Bevölkerung vorhanden gewesen sein muss, belegen die zwei Versuche, Oberschwaben von unten zu einen, im Bauernkrieg bereits mit einer weiträumigen, gestuften genossenschaftlichen Organisation, 1798 immerhin mit einem Appell an ein offenbar vorausgesetztes Regionalbewusstsein. Beide zielten auf ein politisch geeintes Oberschwaben als Arena für die politische Emanzipation von Bauern und Bürgern.
Für die oberschwäbischen Kleinstaaten und ihre Herrschaften war Oberschwaben als Handlungsraum Mittel zu einem bescheideneren Zweck, dem Erhalt der eigenen staatlichen Selbstständigkeit. An der Förderung eines oberschwäbischen Regionalbewusstseins konnten sie kein Interesse haben, aber durch ihr kollektives Zusammenwirken in diesem Raum mit seinen spezifischen politischen Verhältnissen konstituierten sie Oberschwaben als politische Landschaft. Oberschwaben als ‚politische Landschaft‛ erfüllte die von Göttmann genannten Kriterien:
„politische Verbindungen grundsätzlich gleichberechtigter Partner über Grenzen und Räume hinweg;“
„über die engeren Territorialgrenzen hinausdrängende und Herrschaftsrechte unterschiedlicher Art und Träger verbindende Herrschaftssysteme;“
„ein Raum, der durch „Sonderbewußtsein und Sonderinteressen sich auszeichnet […] unterhalb der Gesamtstaatsebene“90.
Wenn auch die Struktur- und Verflechtungskriterien gegeben sind, so muss doch zugegeben werden, dass das Bewusstsein regionaler Identität wenig artikuliert wurde. Dazu mag beigetragen haben, dass Oberschwaben gewissermaßen als Restraum Schwabens gesehen wurde, zu dem die größeren Territorien nicht mehr gezählt wurden und die eine eigene Identität entwickelten. So wurden die oberschwäbischen Gebiete von Österreich schlicht als „Land zu Schwaben“ bezeichnet91. Die spätere Benennung der ‚Landvogtei Schwaben‛ weist in die gleiche Richtung. Hauber 1724 wie Büsching 1778 gebrauchen „Oberschwaben oder Alemannien [...] und das eigentlich das Schwabenland genennet wird“, „das Schwabenland, sonst aber auch Ober-Schwaben oder Alemannien genennet“ als austauschbare Begriffe92. „Der Name Schwaben verband sich also gerade mit den kleinen, mindermächtigen Ständen und ihren Einungen“93. Träger des Stammespatriotismus war aber viel eher Württemberg. „Dort ist der schwäbische Patriotismus zu Hause, und im Falle der Vereinigung der schwäbischen Völker würde es nur dort ein Zentrum geben“94. Der Landes-Diskurs, Landesidentität artikuliert sich im größten Territorium Schwabens, das längst eine eigene Identität ausgebildet hat, der Name Schwaben wird von außen dem südlichen Restbezirk außerhalb der großen Territorien beigelegt. In diesem Rest- gleich Oberschwaben hat sich aufgrund der engen vielfältigen Interaktionen ein eigenes regionales Bewusstsein herausgebildet, das handlungsbedingt und handlungsleitend ist, aber nicht artikuliert wurde. Das katholische Oberschwaben produzierte keine Literatur außer theologischen und erbaulichen Schriften.
Dass die Grenzen der Region zumindest im Osten und Westen unscharf blieben, kann bei einer Landschaft ohne staatliche Einheit nicht verwundern. Hauber und Büsching gaben als Ostgrenze den Lech an, doch Büsching wies darauf hin, dass „Andere sagen Ober-Schwaben sey das Land zwischen der Iler, Donau und am Bodensee“95. Auf Markierungen der Westgrenze verzichteten beide. Man muss deshalb schon für die frühe Neuzeit einen Kernraum zwischen Iller und etwa einer Linie vom Westende des Bodensees zur Donau annehmen. Der Raum zwischen Iller und Lech, das Allgäu, Hegau und Baar bildeten unterschiedlich locker verbundene Teilräume. Die Iller trennte das dritte und vierte Kreisviertel, die Bistümer Konstanz und Augsburg, die Kongregationen der Benediktinerklöster96und innerhalb der Reichsprälaten traten die ‚transillerani‛ als eigene Gruppe auf. Im Allgäu entwickelte sich zwar ein gewisses Eigenbewusstsein, wie es sich in den Organisationen der Ritter und Bauern artikulierte, aber es begriff sich immer als Teilraum Oberschwabens97. Merkwürdig bleibt, dass die Oberschwaben umgebenden ‚Großstädte‛ Augsburg, Ulm und Konstanz nicht wirklich raumbildend wirkten. Augsburg, Ulm und im Spätmittelalter auch Konstanz wurden zwar jeweils Zentren einer Gewerbelandschaft, aber ihre Bindekraft blieb im Wesentlichen auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Ihre weiteren Funktionen Augsburg als Kunst- und Verlagszentrum, Ulm als Tagungsort des Schwäbischen Kreises und Konstanz-Meersburg als Residenz des Bischofs und kreisausschreibenden Fürsten überschritten die Region. Ulm war schon am Kommunikationsgeflecht der ‚oberen Städte‛ nicht beteiligt und separierte sich nach der Reformation konfessionell. Konstanz büßte als österreichische Landstadt politische und wirtschaftliche Potenz ein. Die mangelnde Integrationskraft dieser Städte mag auch daran gelegen haben, dass sie jeweils an der Grenze zu größeren Territorien lagen, zu Bayern, Württemberg und zur Eidgenossenschaft und der zwischen ihnen liegende politisch homogene Raum zu klein war, um von ihnen aufgeteilt zu werden. So organisierte sich Oberschwaben nicht um ein oder mehrere Zentren, sondern als Verflechtungsbereich.
Man wird in Oberschwaben mit einer gestuften regionalen Identität rechnen müssen, zwischen ‚Ortsbezogenheit‛ und Reichsbewusstsein mit einer Zuordnung zum jeweiligen Territorium, zu oberschwäbischen Teillandschaften, zu Oberschwaben und Gesamtschwaben. Bei einer solch ‚hierarchisierten regionalen Identität‛ werden die einzelnen Ebenen räumlich und zeitlich unterschiedlich, aber keine absolut dominant affektiv besetzt gewesen sein.
Der Name Oberschwaben vermochte „keinen Enthusiasmus zu entfachen“98. Wenn das Wort Schwaben fiel, das vielleicht das Herz höher schlagen ließ, mag manchmal Restschwaben und d. h. Oberschwaben gemeint gewesen sein. Dass „mit dem Begriff Oberschwaben, [...] im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit kein Raumbewußtsein“99sich verband, lässt sich aber nicht halten. Es artikulierte sich wenig explizit verbal, aber es leitete über Jahrhunderte politisches kooperatives und konfliktorisches Handeln. Die Oberschwaben redeten nicht über Raumbewusstsein, sie handelten politisch raumbezogen. Es war mehr als eine Bewusstseinslandschaft, es war eine politische Landschaft. Dass „Reichweite und Grenzen konstant blieben“100, trifft wohl für keine historische Landschaft zu, ein großer Kernraum zeichnet sich aber zweifelsfrei ab. Wenn J. C. Pfister 1803 klagte, dass „Schwaben seit geraumer Zeit keine gemeinsame Geschichte hat, dass seine mannigfaltigen größeren und kleineren Staaten zuletzt nur durch einen Schatten von politischer Einheit zusammengehalten worden sind“101, dann bildete zwar auch Oberschwaben keine politische Einheit, aber seine Staaten waren schon durch die Kleinheit zum Zusammenwirken gezwungen. Aus Wiener Sicht hatte der Fleckerlteppich ohnehin eine einheitliche Färbung. Wenn man schon die Landvogtei nicht zu einem gesamtoberschwäbischen Territorium ausbauen konnte, so beanspruchte man doch die Kleinstaaten Oberschwabens als geschlossene Einflusssphäre und Klientellandschaft.102
Als politische Landschaft fand Oberschwaben 1802-06 sein Ende, mit der „Vielfalt des Politischen“ war es vorbei, im nunmehr württembergischen Kernraum entdeckten es seine Bewohner deutlicher als Bewusstseinslandschaft.