Elmar L. Kuhn

Oberschwaben - eine Region als politische Landschaft ...


Spätmittelalter: Vom Verwaltungsbezirk zur politischen Landschaft

Oberschwaben als politische Landschaft existiert seit 1274, als erstmals der Begriff auf eine Realität verweist. Oberschwaben ist Produkt der Politik, tritt als Verwaltungsbezirk ins Licht der Geschichte. Hugo Graf von Werdenberg amtiert 1274 als „judex provincialis superioris Sueviae“ und 1275 als „superioris Sueviae lantgravius“15. Erstmals wird ein bestimmter Raum mit dem Namen Oberschwaben bezeichnet, der Kompetenzbereich der späteren sogenannten (Reichs-)Landvogtei. Sie grenzt an die gleichzeitig geschaffenen Landvogteien Niederschwaben nördlich der Donau und Augsburg östlich der Iller, habsburgischen Hausbesitz südlich von Bodensee und Rhein. In den Reichslandvogteien fasst König Rudolf von Habsburg den nach dem Interregnum verbliebenen Reichsbesitz zusammen. Die Landvögte sollen in ihren Bezirken die Rechte und Güter des Reiches verwalten, verlorenen Besitz zurückgewinnen, den Landfrieden wahren, die hohe Gerichtsbarkeit ausüben, die Amänner der Städte einsetzen sowie die Steuern der Städte und Schirmgelder der Klöster einziehen16.

Rudolf sucht zu reorganisieren, was unter den Staufern schon festere Formen angenommen hat und von den Welfen bereits angebahnt worden ist. Das „im späteren sog. Oberschwaben territorialisierte staufische Herzogtum [baute] vor allem auf jenem ‚Fürstentum‛ auf und setzte es fort, das die Welfen hier zwischen Donau und Bodensee [...] errichtet hatten“17. Als die Staufer Herzogs- und Königswürde verbanden, wurden Reichs-, Herzogs- und staufisches Hausgut zu nicht mehr unterscheidbarem Reichsgut, die staufische Landesherrschaft zum Reichsterritorium, das Dienstmannen als Prokuratoren verwalteten. 1241 zeichnete sich in der Reichssteuerliste bereits die zukünftige Landvogteigliederung ab. Von 12 Städten in Oberschwaben bezog das Reich die Steuer: Biberach, Schongau, Kaufbeuren, Memmingen, Altdorf und Ravensburg, Pfullendorf, Wangen, Buchhorn, Lindau, Konstanz, Überlingen sowie Kempten.

Aber die Landvogtei bleibt ein ‚Anspruchsbezirk‛, ein Territorium kann nur zerklüftet um Ravensburg bis an den See und auf der Leutkircher Heide aufgebaut werden. Im nördlichen Oberschwaben bleiben fast nur Hochgerichts- und Geleitsrechte. Die Reichsstädte emanzipieren sich: Biberach, Memmingen, Überlingen, Lindau, Ravensburg, Pfullendorf, Kaufbeuren, Wangen und Buchhorn haben nur noch ‚Ehrungen‛ als Abgaben zu leisten. Über die Klöster und Stifte Lindau, Salem, Weingarten, Petershausen, Rot, Weißenau, Baindt, Heggbach und Gutenzell übt die Landvogtei die bloße Schirmvogtei aus. Nachdem in Niederschwaben fast alle Reichsrechte verloren gegangen sind, werden beide Landvogteien 1378 zur ‚Reichslandvogtei in Ober- und Niederschwaben‛ zusammengelegt, oft auch nur als Reichslandvogtei Schwaben bezeichnet. Das sogenannte ‚kaiserliche Landgericht auf Leutkircher Heide und in der Pirs‛, das über Zivil- und Kriminalsachen urteilt, löst sich später weitgehend von der Verbindung mit der Landvogtei. Sein Sprengel umfasst im Spätmittelalter nur das Gebiet nördlich des Bodensees und östlich der Schussen18.

Die Habsburger lassen sich 1379/82-85 und schließlich wieder 1486 die Landvogtei verpfänden, die sie alsbald als Instrument ihrer Hausmachtpolitik nutzen. Kaiser Maximilian betrachtet Landvogtei und Landgericht als Reste des alten Herzogtums Schwaben und als Kernpunkte eines neuen schwäbischen Fürstentums. 1500 fügt er seinem großen Herrschertitel die Bezeichnung ‚Fürst in Schwaben‛ an. 1515 und 1523 beruft der Landvogt, nachdem ein erster Versuch 1473 aufgegeben worden war, die Schirmklöster, den lehensabhängigen Adel und die oberschwäbischen Reichsstädte zu Huldigungslandtagen ein. Weitere Ladungen folgen in den nächsten Jahren. Die Anstößer weigern sich, berufen sich darauf, dass „sy gehören ohn alles mittel dem hailgen reich zu“19. Rückhalt an Schwäbischem Bund und Reichsverfassung zwingen Österreich, das ja nun auch fast immer die Reichsspitze stellt, zukünftig zu einer Politik der kleinen Schritte. 1529 gilt später als Stichjahr für die Reichsunmittelbarkeit.

Den Reichsstädten gelingt es am ehesten, sich aus der Abhängigkeit von der Landvogtei zu lösen. In vielfältigen, häufig nur kurzfristigen Bündnissen vom frühen 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts schließen sich die Städte zusammen. Die Bündnisbereiche gehen mit dem Schwäbischen, gar Rheinischen Städtebund weit über Oberschwaben hinaus. Teils organisieren sich in den Bündnissen der Bodenseestädte nur die Städte Südoberschwabens, meist mit Konstanz und anfangs noch südlich des Sees mit Zürich, Schaffhausen und St. Gallen. 1356 mit der Gliederung des Schwäbischen Städtebunds in drei Gesellschaften, in Ostschwaben, Niederschwaben und in Oberschwaben und am Bodensee (mit Schaffhausen und St. Gallen), und 1379 mit einer Zuordnung der niederschwäbischen Städte zu Esslingen, der oberschwäbischen zu Biberach und der Städte um den Bodensee zu Konstanz decken sich grob städtische Bündnisbeziehungen mit dem reichsrechtlichen Anspruchsbezirk der Landvogtei Oberschwaben20. Ab 1390 werden im Schwäbischen Städtebund bis zu seinem Ende 1449 jeweils die Gruppe der ‚unteren‛ niederschwäbischen und ‚oberen‛ oberschwäbischen Städte unterschieden, daneben organisieren sich die Bodenseestädte meist in einem eigenen Bund. Schon Karl Otto Müller hat dreizehn oberschwäbische Reichsstädte als „eine verfassungs- und rechtsgeschichtlich zusammengehörige Städtegruppe“ aufgefasst21. Aus reichs-, regional- und wirtschaftspolitischen Gründen stehen sie im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert in engem Informationsaustausch miteinander und operieren vielfach gemeinsam22.

Ebenso lassen sich Bezüge bei den später einsetzenden ‚Gesellschaften mit St. Jörgen-Schild‛ in Schwaben feststellen, in denen sich der nicht gefürstete Adel zur gegenseitigen Rechtshilfe seit 1406 zunächst gegen die Appenzeller verbündet23. „Weil das Land Schwaben weit und breit ist und unser viel sind“24, bildet dann der Adel im Hegau und an der Donau eigene Gesellschaften, die teils selbstständig operieren, teils untereinander, zeitweise auch mit der niederschwäbischen Ritterschaft „gemeine Gesellschaften“ bilden. Bis 1430 existiert auch eine selbstständige Teilgesellschaft im Allgäu, die aber dann in der Gesellschaft des Hegau-Adels aufgeht. Als Gesellschaft ‚zu Oberschwaben an der Donau‛ firmiert 1426-52 und wieder ab 1469 der Adel im nördlichen Oberschwaben. 1455-69 nennen sich die Hegauer ‚Gesellschaft in Oberschwaben‛. Diese Adelsgesellschaften sind „im wesentlichen ein oberschwäbisches und kein gesamtschwäbisches Phänomen“ und wirken „raumbildend“25. Erst 1488 im Zuge der Bildung des Schwäbischen Bundes wird der gesamtschwäbische Adel mobilisiert und zeichnet sich mit seiner Gliederung in die Teilgesellschaften Neckar, Kocher, Donau und Hegau/Bodensee bereits der Aufbau des Schwäbischen Ritterkreises vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ab. Der Adel an der Donau und im Hegau trägt je 40 %, der niederschwäbische Adel den Rest an den finanziellen Lasten des Bündnisses. Dies sind Indizien für die regionale Verteilung des Adelsbesitzes. Gesamtschwaben bleibt freilich für das Selbstverständnis des Adels wichtiger als die Teilregionen, denn Schwäbisches Recht und ‚Schwabenfreiheit‛ begründen die Reichsfreiheit. Als Personenverband und Rechtsgemeinschaft beanspruchen die Ritter gar, überhaupt erst das Land Schwaben zu konstituieren26.

Die gemeinsame Angst vor der bayerischen Expansion zwingt 1488 Adel und Städte, die Ständeschranken zu überwinden und sich zur „Vereinigung und Gesellschaft St. Jörgen-Schildes und des Heiligen Reichs Städte des Bundes im Lande zu Schwaben“ zu verbinden, zu der bald auch Fürsten zunächst als „Zugewandte“ stoßen27. Nachdem schließlich die meisten wichtigen Reichsstände im deutschen Süden, auch Bayern, der kurz ‚Schwäbischer Bund‛ genannten Organisation beigetreten sind, gewinnen ab 1500 die Fürsten dominierenden Einfluss, bisweilen im Gegensatz zu Reich und Reichsregiment. Zeitweise kann der Kaiser den Bund als Instrument seiner Politik nutzen. Im Schwabenkrieg 1499 müssen die Truppen des Bundes eine Niederlage nach der anderen durch die Schweizer hinnehmen, die nun de facto aus dem Reichsverband ausscheiden. In den Feldzügen gegen Herzog Ulrich von Württemberg 1519 und die Bauern 1525 operiert der Bund erfolgreicher. Bei der Gründung ist eine regionale Gliederung des Bundes vorgesehen, die der Organisation der Adelsgesellschaft mit St. Jörgen-Schild entspricht. Dem Viertel des Hegau-Bodensee-Adels werden die Städte Überlingen, Pfullendorf, Lindau, Ravensburg, Wangen, Isny, dem Donau-Viertel, die Städte Ulm, Biberach, Memmingen, Kempten, Leutkirch und Giengen zugeordnet. Doch diese Regelung bleibt Papier, die Städte bleiben unter sich und wirken nur an der Spitze mit dem Adel zusammen. Bis 1500 bestellen Adel und Städte je einen Bundeshauptmann und paritätisch den Bundesrat, ab 1500 Fürsten, Adel und Städte je in gleichen Anteilen. Der verarmende Adel sucht sich immer mehr aus dem Bund zurückzuziehen und organisiert sich wieder in eigenen Gesellschaften. Auch die Städte sehen in dem immer weiträumiger agierenden Bund ihre Interessen immer weniger gewahrt. Selbst innerhalb der Städtegruppe formieren sich regionale Fraktionen, denen die „Weitläufigkeit“ des Bundes beschwerlich falle. 1511 wird ein eigenes Bündnis der ‚oberen Städte‛ diskutiert, die sich zuerst noch als ‚Seestädte‛ in historischer Reminiszenz bezeichnen. Ab 1519 tagen sie häufig in gemeinsamen Städtetagen zunächst unter Führung Überlingens, wollen sich einem erneuten Beitritt zum Bund entziehen oder zumindest niedrigere Beiträge zahlen28. Die gemeinsame Front zerbricht bald wieder, unter kaiserlichem Druck treten sie 1522 dem Bund erneut bei. Doch noch beim Reichstag 1524 halten die „obern stett [...] treulich zusamen“29und versuchen beim Bauernkrieg 1525 zu vermitteln. Die Reformation spaltet die Reichsstädte zwar, aber in Fragen außerhalb der konfessionspolitischen Kontroversen arbeitet man weiterhin zusammen. Dagegen führt die Reformation 1534 das Ende des Schwäbischen Bundes herbei, an dem auch Bayerns Politik nicht unbeteiligt ist, die ursprünglich zur Gründung geführt hat.

Im Spätmittelalter wurde Oberschwaben zur erkennbaren ‚politischen Landschaft‛ mit spezifischen kleinteiligen, von der Umgebung unterschiedenen Strukturen30, mit Ansätzen zu herrschaftsübergreifenden regionalen, teils ständisch begrenzten, teils ständeüberschreitenden Bünden und Bündnissen. Paradoxerweise haben das zwei gegenläufige Tendenzen ermöglicht. Raumbildend wirkte der Anspruchsbezirk der Landvogtei. Habsburg versuchte sie als angebliche Folgeinstitution des schwäbischen Herzogtums im 15. und 16. Jahrhundert zum Territorium, zum Kern seines beanspruchten Fürstentums Schwaben auszubauen und die Herren, Prälaten und Städte Oberschwabens zu ‚Insassen‛ herabzudrücken. Dies gelang vor allem nicht wegen der Einbindung der laut Gründungsmandat „ohn alles Mittel“ dem Reich zugehörigen Herrschaften in den Schwäbischen Bund31, der, gleichzeitig Instrument habsburgischer Reichspolitik, die Selbständigkeit seiner Mitglieder sicherte. Die habsburgische Hausmachtpolitik führte die oberschwäbischen Herrschaften im Widerstand und als Klientelgruppe zusammen, die habsburgische Reichspolitik sicherte ihr politisches Überleben. Der gemeinsame Überlebenskampf und gemeinsame wirtschaftspolitische Interessen zwangen zu intensivierter Interaktion, verdichteter Kommunikation und Organisationsansätzen.

Das Heranrücken der großen Territorialkomplexe Württemberg, Bayern, Eidgenossenschaft und des österreichischen Breisgaus grenzte die Region nach außen ab, wobei die Westflanke offen blieb. Eine Binnengrenze bildete die Iller, von den Ansprüchen der Landvogtei nur knapp übersprungen und Bistumsgrenze zwischen Konstanz und Augsburg. Identitätsbildend oberhalb der lokalen Ebene war im ‚Diskurs‛ der Fürsten, Ritter, Städte und Humanisten das „Land Schwaben“32. Schwaben war für sie „normative, verpflichtende und legitimierende Größe“33, aber im Außenbild, zum Teil im Selbstverständnis und zunehmend in der Interessenkonvergenz und damit in der Binnenkommunikation hatte sich das „Land zu Schwaben“ verengt auf den Raum im südlichen Schwaben, der „nicht [...] von der landesfürstlichen Herrschaftsbildung erfaßt worden war“34. Der „Name Schwaben verband sich mit den mindermächtigen Ständen und ihren Einungen“35. Göttmann beschreibt eine „hierarchisierte regionale Identität“ auf den zwei Ebenen Gesamtschwabens und Oberschwabens. Als Letzte fügten sich in diese politische Landschaft die Städte ein, nachdem ihre Partner südlich des Sees sich der Eidgenossenschaft zugewandt hatten36.

Copyright 2024 Elmar L. Kuhn