Elmar L. Kuhn

Oberschwaben - eine Region als politische Landschaft ...


Am Ende des 2. Jahrtausends: Das Ende Oberschwabens?

Fast zwei Jahrhunderte war Oberschwaben Bewusstseinslandschaft. Die Gesellschaft Oberschwaben von 1945 bis 1949 wertete dieses Bewusstsein so positiv, dass sie hoffte, an dessen Wesen werde Württemberg, gar Deutschland genesen. Als politische Landschaft konnte sich das auf den württembergischen Anteil reduzierte Oberschwaben nach dem letzten Krieg nochmals ein Jahrzehnt lang verstehen. Die Organisationen vor und nach 1900 orientierten sich aus pragmatischen Gründen am oberschwäbischen Raum, beabsichtigten keine politische Festigung. Solang der Wangener Landrat von der Historie und den Forderungen Oberschwabens sprach, pflichteten ihm viele Festredner bei, sein Ziel einer landschaftlichen Selbstverwaltung trugen sie nicht mit, den Regionalplanungsverband als weiteren möglichen Dachverband liquidierten sie, als der Vorsitzende seinen Posten verlor.

Zum letzten Mal demonstrierte die Generation der in den 50er-Jahren Geborenen in der Jugend- und Alternativbewegung die Integrationskraft der Region. Auch wenn sie für eine andere Region, ein anderes Leben und Arbeiten in der Region kämpfte, bestätigte sie die Region als Handlungsrahmen. Gelegentlich nutzte sie sogar die Historie der Region zur Selbstverständigung und Agitation. So aktualisierten die Grünen die ‚Zwölf Artikel‛240, Filmer drehten ‚Lond it Luck‛ über den Bauernkrieg241und die meisten Nummern der Südschwäbischen Nachrichten brachten regionalhistorische Beiträge.

Heute ist Oberschwaben keine politische Landschaft mehr, als Bewusstseinslandschaft versinkt es in diffusem Nebel. Die bäuerliche Landwirtschaft wird ‚plan‛-mäßig vernichtet, die Kirchen leeren sich und damit brechen zwei Grundlagen hiesiger regionaler Identität weg. Die ländliche Lebenswelt mit ihren begrenzten Handlungs-, Erfahrungs- und Verständigungsräumen und ihrer sozialen Kontrolle zerfällt. Mobilität und Medien weiten Kommunikations-, Erfahrungs- und Handlungsräume ins Grenzenlose trotz aller ‚Globalisierungs‛-Gegentrends. Kollektive Identität bedarf der Grenzen, eines politischen Rahmens oder der Differenzen. Sie wird gestärkt durch einen Gegner. Die Landes-Bürokratie Altwürttembergs fällt heute als Gegner weitgehend aus, auch wenn es immer wieder eindrückliche Erfahrungen Stuttgarter Ignoranz und Arroganz gibt. Der konfessionelle Gegensatz spielt im Zeitalter der Entkirchlichung keine Rolle mehr. Die sog. Entwicklungsrückstände sind nahezu aufgeholt. Auf die Mahnungen eines Städtebauers 1957: „Seien Sie froh, wenn sie in Ihrem Bereich noch unterentwickelte Gebiete haben!“242und die Einsicht Hermann Hesses: „Fortschritt heißt, wieder auf die Höhe von gestern zu kommen“ hören die Macher nicht. „Sie zerwalten [...]. Sie reißen das Land auf, legen Betonpisten quer durch Wiesen und Wälder und dienen dem Fortschritt so sehr, daß man nur noch fortlaufen möchte“243. Noch nicht, aber immer mehr sieht es in Oberschwaben aus wie anderswo. Wer noch ändern möchte, versucht dies lokal oder gleich worldwide, meist in neuer Innerlichkeit. Hans-Peter Biege resümiert mehrere „Fehlanzeigen“:

„Neue, gemeinsame Ziele der Region und Geschlossenheit der Region: Fehlanzeige. Identität braucht eine Vorstellung vom eigenen Interesse.“

„Gebündeltes oder bündelbares oberschwäbisches Interesse: Fehlanzeige.“

„Sinnstifter: Fehlanzeige, statt dessen postmoderne Beliebigkeit – wie überall.“

„Außerdem sind uns die bewusstseinsbildenden Schichten abhanden gekommen: Adel, Klerus, Stadtbürgertum. Letztere, vor allem die Jüngeren, haben längst eine vieldimensionale Identität“244.

Mentalitäten können zählebiger sein als ihre Determinanten. Nach außen wird Oberschwaben weiter vermarktet als ‚Land der Putten und Moorbäder‛. Im Westen ordnet sich jetzt das südliche Hohenzollern wieder Oberschwaben zu. Aber es bleibt der Eindruck, inszenierter Folklorismus und Oberschwaben als Kunst- und Geschichtslandschaft für die Eingeweihten stehen beziehungslos nebeneinander. Ungleich wirkungsvoller präsentiert sich die erfolgreiche konzertierte Inszenierung der Bewusstseinslandschaft Bodensee, verstärkt und gefolgt von der Installierung der politischen Landschaft Euregio Bodensee. Arnold Stadler plädiert für einen Wechsel der Blickrichtung: Es sei „doch gerade umgekehrt: Oberschwaben ist nicht Hinterland des Bodensees, sondern dieser See ist der Hintersee Oberschwabens“245.

Nun sind Regionen schließlich kein Selbstzweck, genauso wenig wie Nationen und Staaten um jeden Preis zu erhaltende Gebilde. Warum soll eine Region nicht wieder aus dem Bewusstsein ihrer Bewohner verschwinden, warum sollen sie sich nicht neu räumlich definieren. Eine schwindende kollektive Identität hat allerdings Folgen für das Handeln, Handlungsmotive entfallen. Ohne ‚Raumidee‛, ‚regionalen Diskurs‛, Identifikation mit der Region kein auf die Region bezogenes Handeln. Die Folge: „die veränderte Bedeutung einer Landschaft verändert diese selber“246, überlässt sie in diesem Fall dem Walten des Marktes. Regionales Desinteresse macht uns noch mehr zu ‚Heimatvertriebenen‛, ohne dass wir wegziehen müssen247.

Regionales Bewusstsein, regionale Identität und regionales Handeln sind heute immer weniger Folge wenig reflektierter spezifischer Faktoren. Regionale Identität ist wie personale Identität heute wählbar, eine Frage der eigenen Werte und des Lebensentwurfes. Personale Identität ist dabei immer auch raumbezogene Identität. Wir wählen, mit welchen Räumen mit welchen Werten wir uns identifizieren248. Ob Oberschwaben ein Raum mit identifizierbaren Werten bleibt, zwischen Gemeinde, Kleinregion und Land, Nation, Europa etc., hängt von den Entscheidungen seiner Bewohner ab.

Wenn klare regionale Interessenlagen fehlen, schafft der „Kulturbetrieb [...] noch am ehesten ein Regionalbewusstsein“249. Wie klein auch immer, kann Geschichte dazu einen Beitrag leisten. Im Württemberg des 19. Jahrhunderts spielte „eine nicht geringe Rolle bei der Integration [...] die Geschichtsschreibung und Landesbeschreibung“250. Zuvor hatte schon J. C. Pfister für ganz Schwaben versprochen: „Gerade die Geschichte [könnte] [...] noch Einheit in dem Gemälde erhalten“251. Und Otto Feger erwartete von seinen Kollegen und vom Institut für oberschwäbische Landeskunde, bei dem er mitwirken sollte: „Landschaftsbewußtsein der Gegenwart [...] kann u. U. wieder lebendig gemacht werden durch historische Studien“252. Die neue Gesellschaft Oberschwaben setzt hier an. Die Beschwörung republikanischer Traditionen, ‚glückhafter Rückständigkeit‛, ‚heiterer Moralität‛ sollen als Modelle für heute ‚fruchtbar‛ gemacht werden. Geschichte soll hier nicht Selbstzweck bleiben, sondern zur Gestaltung der Politik ermutigen, vor allem das Regionalbewusstsein fördern. Was das heißen mag, bleibt unbestimmt, wird nicht diskutiert, die Wege könnten sonst auseinander gehen. Die Praxis ist noch bescheiden. Die Auflagenzahlen der Buchreihen sind überschaubar, die Oberschwabentage können sich an Besucherzahlen mit keinem Pop-Event messen.

„Wir stehen da wie Hinterbliebene. Das oberschwäbische Gefühl [...]. In Oberschwaben, in der Provinz hier, gab es praktisch nie eine wirklich emanzipatorische Bewegung, eine Bewegung also im Sinne eines gesellschaftlichen Fortschritts. Alle Bestrebungen waren geschichtlich bisher solche, die auf den Bestand der Provinz gerichtet blieben. In Ruhe überleben“253. In Ruhe zu überleben, ist heute viel. Aber Ruhe gibt es nur um den Preis der Unruhe, der tätigen Teilnahme, Wieder-Einübung von ‚Republikanismus‛. Der Blick in die Geschichte ist immer selektiv, die Erinnerung an Republikanismus mag als Aufforderung zu tätigem Republikanismus gewertet werden, damit wir uns in ‚heiterer Moralität‛ weiterhin an ‚glückhafter Rückständigkeit‛ freuen können. Dazu wird es mehr als Bücher brauchen, damit Oberschwaben wieder mehr als Buchtitel und Tourismusprospekte schmückt. Auch wenn uns Autor und Sprachklang irritieren: „inmitten des Andranges des Unheimischen“ bedarf es eines „neuen Verhältnisses zum Heimischen [...]. Aber wie? In der Weise, dass wir Jenes zu bewahren willens sind, aus dem wir herkommen [...], alles Gediegene [...] gedeiht [nur], wenn der Mensch gleich recht beides ist: bereit dem Anspruch des höchsten Himmels und aufgehoben im Schutz der tragenden Erde“254.

Veröffentlicht in: Ulm und Oberschwaben 55, 2007, S. 51-113.

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