Elmar L. Kuhn

Oberschwaben - eine Region als politische Landschaft ...


Das letzte halbe Jahrhundert: Der Genius, ein kurzlebiger Staat, die Landräte und die Freaks

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg werden von unterschiedlichen Akteuren mehrere Anläufe zu gemeinsamem politischem Handeln in der Region und für die Region unternommen: die geistespolitische Suche nach ‚Grundeinsichten für Verantwortungsträger‛ in der Gesellschaft Oberschwaben in den späten 40er-Jahren, die kurze „Staatlichkeit der oberschwäbischen Kulturnation“ im Land Württemberg-Hohenzollern157, politische Neuordnungspläne für den deutschen Süden nach 1945, die entwicklungspolitische Offensive des Regionalplanungsverbandes Oberschwaben in den 60er-Jahren, die Alternativ- und Jugendbewegung in den 70er und frühen 80er-Jahren, die regionale Kulturpolitik der Landräte im Zweckverband ‚Oberschwäbische Elektrizitätswerke‛; über die Jahrzehnte hinweg werden Tourismus-Vermarktung und Kulturpflege betrieben.

In Aulendorf eröffnet 1939 Joseph Rieck eine Buchhandlung, die durch ihr Angebot und ihren Kundenstamm im Naziregime „für das geistige Deutschland [...], das nur noch in Heimlichkeit vegetieren durfte, ein Mittelpunkt“ wird. Rieck, geprägt von Carl Muth und Theodor Haecker, Pioniere einer geistigen Erneuerung des Katholizismus, und in enger Verbindung mit Ernst Michel, Denker einer linkskatholischen Ethik, geht nach der „Aufgabe der Sammlung der Kräfte des Widerstandes“, nach der Befreiung „die große Aufgabe der Sammlung und Zielweisung des Denkens, der Klärung unserer historischen Situation“ an und erhält von der südwürttembergischen Landesverwaltung den Auftrag, „in Aulendorf einen kulturellen Mittelpunkt für Oberschwaben zu schaffen“. In einer Akademie sollen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen die „wesenhaften Probleme ihres Fachgebiets“ bearbeiten. In der Gesellschaft Oberschwaben sollen sich die „maßgebenden Personen des Landes [...] in Aulendorf zur Aussprache über ihr Lebensgebiet treffen“158.

In seiner programmatischen Rede zum Eröffnungstag am 27. April 1946 im Schloss Aulendorf stellt Joseph Rieck der Gesellschaft die Aufgabe, „Grundeinsichten für die verschiedenen Lebensgebiete zu finden“, sie an die „dafür Aufnahmefähigen“ zu vermitteln mit dem Ziel der „Bildung einer neuen Schicht von Verantwortungsträgern“. Leitende Gesichtspunkte sollen sein: „Hinwendung zum Menschen [...] in einem sozialen Humanismus [...], eine geistige Front durch alle Nationen und eine Erneuerung des Christentums, das [...] seine heilenden Kräfte den profanen Bezirken zuwendet“. An Leitfiguren nennt Rieck die französischen katholischen Philosophen Jacques Maritain und Emanuel Mounier, aber auch Camus und Sartre. Als zentrale Begriffe tauchen immer wieder der „freie geistige Tauschplatz“ und der „Sammelplatz der lebendigen Kräfte des heutigen Denkens“ auf159. Später grenzt der Sekretär der Gesellschaft, Baron Stauffenberg, ein, jede „fundierte Meinung und Überzeugung soll, wenn sie nur auf dem Urgrund [...] einem weiten Sinn katholischen Glaubens getragen ist, hier zu Worte kommen können“, doch setzt er sich gegen Kritik vehement dafür ein, dass man hier „ebenso wohl über Kapitalismus und Sozialismus, Liberalismus und Katholizismus reden können“ solle160. Das geht manchem einflussreichen Mitglied schon wieder zu weit: Fürst Erich von Waldburg-Zeil verlässt unter Protest die Gesellschaft161.

Die Akademie nimmt ihre Arbeit nie auf, da ihr vorgesehener Leiter, Prof. Michel, nicht von Frankfurt nach Aulendorf übersiedeln will, doch veranstaltet die Gesellschaft von 1946 bis 1949 eine Reihe von Tagungen u. a. zu Verfassungsfragen, zum Städtebau, zu Schule und Erwachsenenbildung, Kirchengemeinden und Kirchenmusik, sozialen Problemen, zur Agrarreform und Treffen der südwestdeutschen Archivare. Die Aktivitäten der Gesellschaft sollen sich nicht in erster Linie auf Oberschwaben beziehen. Oberschwaben solle das Kraftzentrum darstellen, dessen „universale Geistigkeit“ einen „besonderen Beitrag für den Neuaufbau des geistigen und kulturellen Lebens in Württemberg“ und darüber hinaus für die „innere Neubildung des deutschen Volkes“ leistet162. Der Geistes- und Bewusstseinslandschaft Oberschwaben ist die Rolle einer Modellregion zugedacht. Keinesfalls wolle die Gesellschaft Oberschwaben „in einem spitzwegartigen Idyll, sei es bürgerlicher Behäbigkeit, sei es feudalistischer Anachronismus, inmitten einer chaotischen, brennenden Welt, gleichsam als glückliches Eiland oder als Naturschutzgebiet erhalten“. „Separatistische Ansprüche“ werden dezidiert zurückgewiesen163.

Der Verlag der Gesellschaft soll neben Veröffentlichungen zu Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Soziologie und Theologie auch Bücher herausgeben, „die der Bewußtmachung des oberschwäbischen Landes dienen“164. Es bleibt beim Druck des Berichts der Gründung der Gesellschaft mit den dort gehaltenen Reden und der Programmschrift ‚Renovatio‛ von Ernst Michel165. Auch von irgendwelchen Ergebnissen des ‚Instituts für oberschwäbische Landeskunde‛, das am 11. Oktober 1947 feierlich gegründet wird, ist nie mehr etwas zu hören. Nur die südwestdeutschen Archivare befassen sich auf ihrer dritten Tagung in Aulendorf 1948 mit ‚Oberschwaben als historischer Landschaft‛. Von den Kuratoriumsmitgliedern leben nur etwa die Hälfte in der Region. Der Präsident des Kuratoriums, Gerhart Storz, später baden-württembergischer Kultusminister, ist zwar in Oberschwaben geboren, wirkt aber damals als Oberstudiendirektor in Schwäbisch-Hall. Vorsitzender ist der Landrat von Saulgau, Karl Anton Maier.

Nachdem die Gesellschaft Oberschwaben 1949 ihre Tätigkeit aus nicht ganz durchsichtigen Gründen, u. a. wegen der parteipolitischen Polarisierung und auch aufgrund finanzieller Probleme, eingestellt hat, formell besteht sie weiter, bleibt zweierlei. Die südwestdeutschen Archivare setzen ihre Jahrestreffen bis heute fort und erinnern sich bei ihrem 50. Südwestdeutschen Archivtag an ihre Anfänge in Aulendorf. Die Rede von Karl (später: Carlo) Schmid, die er auf der Gründungsversammlung der Gesellschaft 1946 hielt, wird später vom Regionalplanungsverband Oberschwaben nachgedruckt. Er wird schon damals gern gehört, aber in seinem Überschwang doch bezweifelt. Hier sei ein „Menschenbild zur Ausprägung gekommen [...], in dem Züge der Humanität bewahrt werden konnten, die andernwärts geopfert werden mußten“. Der Oberschwabe sei „ein Geschöpf Gottes, das sich selbst erfüllt, und nicht von den Sachen, den Umständen und Zwecken her determiniert ist“. Dabei habe dieses einzigartige Geschöpf der Versuchung widerstanden, abzuheben, den Willen zu verabsolutieren, der „Geist hat sich hier nie hochmütig vom Stoffe geschieden“, der Mensch habe hier „die Natur geformt und nicht geknechtet, sie nicht sich selber entfremdet“. Die „menschlichen Tugenden [sind] hierzulande ins Blühen gekommen [...] wie nur je anderswo“. Wo lebe das „Spezifisch-eigenständige so lauter [...] wie hier?“ Der „Genius Oberschwabens“ sei der „Engel der Humanität“, getragen von der Einheit von Antike, Christenheit und Bodenständigkeit166. Zumindest für die Gesellschaft Oberschwabens erweist sich der Genius als nur begrenzt flugfähig, die neue Züricher Zeitung ist schon 1948 skeptisch: „man wird [...] abwarten müssen, [...] wie weit ihre Blütenträume reifen“. Die separatistischen Bestrebungen gelten aus Züricher Sicht als erledigt, gelobt wird das aufblühende Kunstleben, „Ausdruck eines neuen Lebensgefühls“, Anzeichen „geistiger Erneuerung Oberschwabens“167.

Das ‚Lob Oberschwabens‛ singt Karl (Carlo) Schmid als Staatsrat und Landesdirektor, quasi Ministerpräsident des Landes Südwürttemberg-Hohenzollern, eines Landes, das auf französische Anordnung gebildet wurde und das französische Besatzungsgebiet in Württemberg, also dessen südlichen Teil, umfasst. Die Rede Schmids klingt heute harmlos gefällig, aber mit seiner Betonung der Humanität wirbt Schmid für seinen ‚anthropozentrischen‛ Verfassungsentwurf gegen die ‚theozentrischen‛, in Teilen gar ‚theokratischen‛ Vorstellungen der CDU. Während im Entwurf Schmids sich das Volk die Verfassung gibt „im Vertrauen auf Gott [...] als ein Bekenntnis zu der Würde und den ewigen Rechten der Menschen, als einen Ausdruck des Willens zu Einheit, Gerechtigkeit und Freiheit“, gibt sich im Entwurf der CDU das Volk seine Verfassung „Angesichts der ernsten Lehre über die Folgen der Gottesentfremdung […] im Gehorsam gegen Gott, der den Menschen seinen Willen in Christus offenbart hat, und im Vertrauen auf Gott, den allmächtigen Schöpfer und Erhalter, den allein gerechten Richter“168. Hier prallen völlig unterschiedliche Vorstellungen aufeinander, was die „oberschwäbische Idee“, was die „brauchbare Tradition“ Oberschwabens denn seien.

Heinz Pfefferle versucht nachzuweisen, dass das „Land ‚Württemberg-Hohenzollern‛ [...] nichts anders [sei] als die erstmalige Staatlichkeit der oberschwäbischen Kulturnation!“ Für „die gewichtigste Regierungspartei in Württemberg-Hohenzollern, die CDU [habe] Oberschwaben ein politisches ‚Kernland’“ dargestellt. „Oberschwaben ist auch weltanschaulich ein ‚Kernland‛, das Württemberg-Hohenzollern insgesamt seinen Stempel aufdrückt. Wenn hier [...] ein Landesbewusstsein entsteht, so ist dies ganz wesentlich der Tatsache zu danken, dass Oberschwaben mit seinem neuerwachten Selbstbewusstsein einen festen Kristallisationskern bildet.“ Exekutor „oberschwäbischer Identität“ sei die CDU gewesen. Zwar habe die südwürttembergische CDU den Südweststaat „entscheidend [...] auf den Weg gebracht“, doch letztlich nur, um „die Wiederherstellung des alten Württemberg und seines Stuttgarter Zentralismus zu verhindern“ und „eine der letzten einigermaßen christlichen Machtpositionen in Deutschland“ zu sichern169.

Die CDU repräsentiert die hegemoniale politische Kultur Oberschwabens, die einige Jahre im Kleinstaat Württemberg-Hohenzollern ihre politische Organisationsform findet. Wenn man das Land Württemberg-Hohenzollern als Staatsform „der oberschwäbischen Kulturnation“ interpretiert, dann hat sie sieben Jahre Bestand, die Grenzen sind freilich nicht selbstbestimmt, sondern von den Besatzungsmächten vorgegeben, und beziehen größere ehemals altwürttembergische Gebiete mit ein170.

Im größeren Südweststaat haben die oberschwäbischen Repräsentanten mit wesentlich geringerem Einfluss zu rechnen. Der Waldseer Bürgermeister und CDU-Landtagsabgeordnete ruft deshalb 1949 zu einer vertraulichen Konferenz über „Die Stellung Oberschwabens im Falle einer staatlichen Neuordnung“ ein171. Ziel ist ein eigener Landesbezirk im neuen Bundesland, abgelehnt wird die Wiederherstellung des alten Landes Württemberg mit seinem Stuttgarter ‚Zentralismus‛, dem die Südlösung, Südwürttemberg, Südbaden, Hohenzollern, vorgezogen wird. Als Sitz des südwürttembergischen Regierungspräsidiums im neuen Bundesland werden zwar gelegentlich auch die zentraler gelegenen Städte Sigmaringen und Ravensburg erwogen, es bleibt aber bei der peripheren, Stuttgart nahen Universitätsstadt Tübingen. Auch nach Stuttgarter Ansicht ist der Regierungsbezirk „ein zufälliges Gebilde, [...] in dessen Rahmen das landschaftliche Anliegen von Oberschwaben nicht erfüllt werden“ kann172. Trotz altbadischem, und das heißt ja befremdlicherweise neubadischem Widerstand, endet die südwürttembergische Eigenstaatlichkeit nach sieben Jahren mit der Konstituierung des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg 1952. Dass es gelungen sei, im neuen Bundesland Baden-Württemberg „essentielle oberschwäbische Belange“ abzusichern und ein „Maximalprogramm an regionaler Eigenständigkeit“ durchzusetzen173, ist freilich eine Mär. Oberschwaben wird wieder dem ‚Stuttgarter Zentralismus‛ ausgeliefert.

Friedrich Metz schlägt 1948 in seiner Konzeption für ein Bundesland ‚Rheinschwaben‛ einen Regierungsbezirk Sigmaringen vor, der zwar außer dem ganzen Oberschwaben noch den größten Teil der Alb, aber nicht die nördlichen Teile des späteren Regierungsbezirks Tübingen umfasst hätte174. Größere Pläne verfolgt der Konstanzer Archivar Otto Feger mit seinem damals weit verbreiteten Aufruf „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ von 1946175. Er sieht die Verantwortung für die nationalsozialistische Katastrophe bei den autoritären Dispositionen des deutschen Nordens und Ostens, während ihm die freiheitlichen Traditionen des deutschen Südwestens bessere Voraussetzungen für ein demokratisches Staatswesens zu bieten scheinen. Er propagiert deshalb ein „autonomes Land Schwaben“ mit Baden, Württemberg, Hohenzollern, Bayerisch-Schwaben und eventuell einmal Vorarlberg. In diesem Land sollen die „natürlichen Landschaften“, demnach wohl auch Oberschwaben, eine möglichst große Selbstständigkeit genießen mit eigenen Parlamenten und eigener Verwaltung. Solche Gedanken finden auch in Bayerisch-Schwaben Anklang, hier werden wieder Modelle gebastelt, die schon 1848, 1919 und 1930 diskutiert worden sind, wo für ein selbstständiges (Ost )Schwaben oder unter dem Schlagwort „Nie wieder München“ für den Anschluss an das „Reichsland Großschwaben“ geworben wurde176. Noch weiter gehen Hoffnungen auf eine ‚Alpen-Union‛ oder ‚Donau-Föderation‛ von Baden bis Tirol, die auch beim oberschwäbischen Adel Anklang finden177. Nachdem an den Grenzen nichts mehr zu ändern ist, versammelt man dort den Geistesadel zur Erneuerung ganz Europas in „abendländischer Aktion“ und „abendländischer Akademie“178.

Nicht weit von Zeil, in Wangen im württembergischen Allgäu, denkt ein Landrat zwar auch abendländisch, bleibt aber in seinen Gestaltungsabsichten bescheidener und greift doch, wie sich zeigen sollte, für Wollen und Denken der Region zu hoch. Dr. Walter Münch hat schon als Regierungsrat beim Landratsamt Tettnang maßgeblich im Arbeitsausschuss der Gesellschaft Oberschwaben mitgewirkt179. Als Landrat des Landkreises Wangen vollzieht er Ende der 50er-Jahre den Schritt von der Diskussion zum konkreten Handeln und schafft das Forum für regionale Artikulation. Damals häufen sich in der Schwäbischen Zeitung, offensichtlich bestellt von der Redaktion, aber Ausdruck eines verbreiteten Unbehagens, Artikel, die eine oberschwäbische Regionalplanung fordern. Sie sind Ausdruck der allgemeinen Planungseuphorie, die sich bis in die 70er-Jahre noch steigert und der Politik noch eine insbesondere räumliche Steuerung der gesellschaftlichen, vor allem wirtschaftlichen Entwicklung zutraut. Es ist aber auch eine unmittelbare Reaktion darauf, dass in den Nachbarregionen des westlichen Bodenseeraums und Neckar-Alb bereits Planungsgemeinschaften gebildet worden sind, die Randgebiete Oberschwabens verplanen, und dass von der staatlichen Landesplanung der Bodenseeraum als Testregion vorgesehen ist, wodurch Oberschwaben planerisch zerschnitten wird.

Vor allem aber glaubt sich Oberschwaben von Stuttgart vernachlässigt und will seine Interessen nun energischer vertreten: „Wenn man heute in Oberschwaben von dem neuen Gebilde (dem neuen Bundesland) nicht mehr so entzückt ist, so hat das seine Gründe. Der Süden kam bei dem Handel schlecht weg [...], es hätte Förderung oder wenigstens liebevolle Behandlung verdient. Statt dessen mußte es zusehen, wie der Norden in erster Linie für sich sorgte [...], der Rest floß zur Beruhigung der altbadischen Gemüter nach Südbaden [...]. Ministerpräsident Dr. Gebhard Müller hat einmal den Oberschwaben vorgeworfen, sie rührten sich nicht und hätten darum auch nichts bekommen. Sie werden sich das nicht ein zweites Mal sagen lassen“180. Es gibt allerdings auch Zweifler, die fragen: „Gibt es noch ein Oberschwaben?“ und meinen, man könne aufgrund der ungleichen Entwicklung, „nicht mehr von Oberschwaben als einem einheitlichen Raum mit wesentlichen gleichberechtigten Interessen sprechen“. Eine „echte Planungsgemeinschaft“ komme deshalb wohl nicht in Frage, doch müsse „ein autoritatives Vertretungsorgan - gleich welchen Namens“ geschaffen werden181.

Die „echte“ Planungsgemeinschaft für den südlichen Teilraum Oberschwabens, Östlicher Bodensee-Allgäu, wird auf Initiative Münchs im Februar 1961 von den drei Landkreisen Ravensburg, Wangen und Tettnang gegründet. Im April einigen sich oberschwäbische Landkreise und Städte sowie einige benachbarte bayerische Kreise in der ‚Waldseer Vereinbarung‛ auf die Bildung des Planungsverbandes, später ‚Regionalplanungsverband Oberschwaben‛182. Auf Druck des Innenministeriums muss sich das Neugebilde zunächst als ‚Arbeitsgemeinschaft für Planungen in Oberschwaben‛ bezeichnen, da es mit seinem Zuschnitt nicht in die staatlichen Vorstellungen kleinräumiger Regionalgliederung passe. Es erhält auch nie eine förmliche staatliche Anerkennung und fungiert quasi als Dachverband über den „echten“ Planungsgemeinschaften Östlicher Bodensee-Allgäu (1961), Donau-Riß (1965), Donau-Iller-Blau (1965) und Neckar-Alb (1958)183.

Auf der ersten konstituierenden Landschaftsversammlung am 17. Juli 1961 in Ravensburg singt Münch nochmals das alte oberschwäbische Klagelied: „Im Königreich Württemberg sei Oberschwaben während des 19. Jahrhunderts nicht als gleichberechtigter Landesteil integriert worden [...], politisch, kulturell und wirtschaftlich sei in Oberschwaben ein Vakuum entstanden [...]. Die Einwohner seien pauschal als wirtschaftlich untauglich angesehen worden [...]. So sei das Gebiet diskriminiert und zur Provinz gestempelt worden. In der einheimischen Bevölkerung seien aus diesen Gründen bis heute überlieferte Vorbehalte gegen Regierung und Administration aus Stuttgart vorhanden. Die Landschaft wolle [...] Gleichberechtigung und Forderung gemäß ihrer Eigenartigkeit“. Man habe keine „Sezessionsgedanken“, aber wolle „ein gemeinsames Forum für Oberschwaben, eine gemeinsame Repräsentation gewinnen“, die vielleicht zu „echten Selbstverwaltungskörperschaften“ auf landschaftlicher Ebene zwischen Kreis und Land führen könne184. Die Stuttgarter Zeitung hält die Münchschen Ausführungen für „eine neue, oberschwäbische Version württembergischer Geschichte [...], aggressiv und auch etwas einseitig.“ Es sei aber sicher, dass „manches [...] auch beim Mann auf der Straße noch vorhanden, noch lebendig ist“185.

Die zwölf Landschaftsversammlungen sind die in der Regel einmal jährlich stattfindenden großen, repräsentativen Foren der politischen Szene Oberschwabens, zu der die Landkreise und einige Städte als Mitglieder ihre Landräte und Oberbürgermeister und daneben weitere von den Kommunalparlamenten gewählte Vertreter entsenden. Außerdem werden die Abgeordneten der Region, die Vorstände der staatlichen Sonderbehörden und wichtiger Verbände sowie Honoratioren aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien, Kirche und Adel eingeladen. Als Ehrengäste sind der Ministerpräsident oder ein Landesminister und der Regierungspräsident anwesend. Die Versammlungen befassen sich jeweils mit aktuellen Schwerpunktthemen. Münch weist ihnen folgende Aufgaben zu: „Die Landschaftsversammlung soll eine einheitliche Willensbildung in bezug auf eigene Zuständigkeiten in der Landschaft ermöglichen, soll Gelegenheit geben, die echten Gegenwartsaufgaben in eigener Zuständigkeit besser und rascher zu erfüllen, die Vorstellungen von einer Entwicklung in der Zukunft zu klären, zu gemeinschaftlichem Planen und Handeln zu kommen. Sie soll in allen Fragen der Landespolitik als gemeinsame Repräsentation der gestaltenden Kräfte Oberschwabens das Wort ergreifen und das Gewicht dieser Landschaft verstärken [...]. Die Landschaftsversammlung kann keine autonome Korporation sein. Gleichwohl wird ihre Zusammensetzung einen hohen Grad von Legitimität gewährleisten“186.

Der Verband unterhält eine kleine Geschäftsstelle, die in Personalunion mit Beamten des Landratsamts Wangen besetzt ist und die Sitzungsvorlagen und Planungsunterlagen erarbeitet, vor allem den vorzüglichen „Strukturatlas Oberschwaben“ (1967-70). Von fremden Autoren werden u .a. Untersuchungen und Gutachten zum „wirtschaftlichen und sozialen Umschichtungsprozeß“, zur Agrarstruktur und zur „wachsenden Wirtschaft“ veröffentlicht. Die staatliche Planung sucht der Verband durch seine „Stellungnahme [...] zum Gebietsentwicklungsplan Oberschwaben“ zu beeinflussen. Als geschäftsführender Ausschuss fungiert ein Planungsvorstand. Teilbereiche werden delegiert an den Verkehrsausschuss, den Fachausschuss ‚kommunale Kulturpflege‛ und an die sehr unterschiedlich funktionierenden, 1964 gebildeten ‚kulturellen Arbeitskreise‛. Aus ihnen erwächst der ‚Kunstverein Oberschwaben‛, der nach zwei repräsentativen Ausstellungen 1970 wieder an inneren Querelen eingeht und das bis heute bestehende ‚Literarische Forum Oberschwaben‛. Aus dem Verband heraus entsteht die ‚Entwicklungsgesellschaft Oberschwaben‛, die die Versorgung der Region mit Erdgas vorantreibt.

Am meisten beschäftigt den Verband wohl über die Jahre hinweg das Thema Straßenbau. Gleich in der ersten Versammlung wird eine ‚Resolution zum Straßennotstand in Oberschwaben‛ mit der Forderung nach „echter, staatsmännischer Verkehrspolitik auch für Oberschwaben“ verabschiedet und bei der 10. Landschaftsversammlung 1970 heißt es wieder, die „Standortnachteile Oberschwabens sind mit Vorrang durch den zügigen Ausbau des Verkehrswesens zu beheben“187, wobei immer vorrangig der Straßenverkehr gemeint ist. An weiteren Themen, mit denen sich die Landschaftsversammlungen mehrfach befassen, sind zu nennen: Raumordnung und Planung, Schulwesen, Agrarstruktur, Landschaft und Umwelt sowie Verwaltungsreform. Die erste Versammlung hat Ministerpräsident Kiesinger, der eben erst die Universitätsneugründungen Konstanz und Ulm verkündet hat, mit dem Vorschlag einer oberschwäbischen Akademie begeistert. Diese Idee einer „Institution zur geistigen Grundlagenerforschung“ ist „eine Wiederaufnahme der Tradition der Gesellschaft Oberschwaben“188. Es bleibt dann bei zwei durchaus hochkarätig besetzten „Akademietagungen“, auf einer hält Prof. Dahrendorf sogar eine „zentrale Universität“ in Oberschwaben als einer „der vitalsten Regionen im Lande“ für notwendig189. Man gibt sich dann mit ‚kulturellen Arbeitskreisen‛ zufrieden, die in der Mehrzahl kläglich enden190.

Münch will immer beides: Entwickeln und bewahren. 1959 hat er eine Kampfschrift mit dem bezeichnenden Titel herausgegeben: „Steinbeis kam nur bis Ravensburg [...] das württembergische Allgäu verlangt nach Verkehrserschließung und Gewerbeförderung“191. Dass dieses Verlangen für ganz Oberschwaben Realität wird, ist Ziel des Regionalplanungsverbands während seines ganzen Bestehens. In seiner Programmschrift für die erste Landschaftsversammlung „Was soll aus Oberschwaben werden?“ betont der Landrat und Vorsitzende die Gefahren: „Die Kulturlandschaft [...] wird mit einer überraschenden Geschwindigkeit zu einem ausgeräumten Werkfeld. Die Ortschaften [...] breiten sich mancherorts aus zu unorganischen Konstruktionsfeldern der Wohnsiedlungen und der Fabrikbereiche“. Er zitiert Heidegger, Jünger und den Baron Hornstein als „Denker aus Oberschwaben“, dass eine „geistige Ordnung der materiellen Ordnung vorausgehen“ müsse und „nur nach sorgfältigen Überlegungen neue Elemente der Entwicklung zugelassen werden“ sollen192. Die Erfolgsbilanz betont das Outfit, nicht die Substanz des Inhaltes: „Wir haben uns [...] bemüht: das Image unserer gemeinsamen Heimat, die Facon dieser guten alten Firma aufzupolieren, das gemeinsame Prestige aufzuwerten, die Auslagen zu beleuchten, die Verpackung der Wünsche marktkonform zu machen, die Belegschaft zu einem Firmengefüge zu erziehen, die Public-relations zu pflegen“193. So sind es wohl Pyrrhussiege, der Verband ist erfolgreich, Oberschwaben holt auf, auch in seiner Selbstzerstörung.

Mit dem Jahresende 1972 zeigt sich, wie sehr die politische Einigung Oberschwabens durch den Verband das Werk Münchs gewesen ist, denn mit dem Ende des Landkreises Wangen, dem Verlust des Landratspostens, kommt das Ende des Regionalplanungsverbands Oberschwaben, was ja nicht zwangsläufig ist. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in dieser Region mit ihrem „eigenbrödlerischen Sinn“194ist unter den oberschwäbischen Landräten durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Der Landkreis Saulgau hält sich immer fern, sein Landrat Karl Anton Maier will „nichts wissen von den regional- und landespolitischen ‚Pontifikalämtern‛, die nichts bringen als schnell verwehenden Weihrauch für Veranstalter und Gäste“195. In die Vorstellungen des Landes hat der Verband trotz aller Ministerreden nie hineingepasst. Die Verwaltungsreform 1972/73 teilt Oberschwaben wie das Bodenseegebiet in zwei verschiedene Regionalverbände auf und löst vier Landkreise auf. An Oberschwaben haben jetzt noch die Kreise Ravensburg, Biberach, Sigmaringen, der Bodensee- und der Alb-Donau-Kreis Anteil. Wogegen sich die Gründung des Regionalplanungsverbands Oberschwaben richtete, die Aufteilung Oberschwabens in zwei Regionalverbände Bodensee-Oberschwaben und Donau-Iller, wird jetzt Realität. Die Kreisreform zerstört 35 Jahre nach der letzten Gebietsreform erneut emotionale Bindungen im kleinregionalen Bereich196. Münch hat noch kurz vor Torschluss versucht, mit der Gründung einer Euregio Bodensee ein neues Forum interregionaler Zusammenarbeit zu schaffen. Seiner Zeit wieder voraus, scheitert er diesmal aber mangels Macht und wird von der Bildung der ‚Internationalen Bodenseekonferenz‛ der Regierungschefs rund um den See überrollt, die dann prompt auf Jahre hinaus kaum mehr zusammentrifft197. Für den Regionalverband Bodensee-Oberschwaben, der nur noch das südliche und westliche Oberschwaben vertreten kann, zieht der langjährige Vorsitzende Karl Wäschle eine positive und damit für den Münch’schen Verband eine kritische Bilanz: „in dem Maße, in dem die Publizität oberschwäbischer Aktionen abnahm, die Effektivität oberschwäbischer Planung und auch oberschwäbischer Initiativen stieg“. Aber eine „gesamtoberschwäbische Aktivität gibt es nur noch von Fall zu Fall“198.

Als einziges Relikt des Regionalplanungsverbands Oberschwaben überlebt das ‚Literarische Forum Oberschwaben‛, das Walter Münch bis kurz vor seinem Tode 1992 leitet, die kulturellen Arbeitskreise. Immer ist ihm hier das „Projekt der Selbstaufklärung und Ermutigung einer Landschaft [...], eine lebendige kulturelle Auseinandersetzung zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft“ ein Anliegen, ein Projekt, das die Forumsmitglieder mittlerweile als anachronistisch betrachten199.

Selbstaufklärung und Ermutigung betreiben in den 70er-Jahren Andere, Jüngere, direkter und radikaler. Drei Faktoren führen dazu, dass Jugendliche der Region in den 70er-Jahren nicht mehr einfach in den vorgezeichneten Bahnen ihrer Eltern verbleiben wollen und andere Freizeitmöglichkeiten, aber auch generell andere Lebensweisen einfordern: Das sind zum einen die „tiefgreifenden Wandlungen in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen“200, d. h. Industrialisierung der Landwirtschaft, sich beschleunigender technologischer und damit sozialer Wandel, Auflösung der traditionellen familiären und dörflichen Bindungen, zum anderen die ‚Bildungsrevolution‛ auch auf dem Lande und schließlich die Einflüsse der Studentenbewegung. Unzufrieden mit der „Mischung aus Tourismus- und Kleinstädtchensauberkeit und Obrigkeitsordnung sowie der tagtäglich druckfrisch servierten lebensfeindlichen besitzorientierten Kleinkariertheit“ fordern die Jugendlichen in vielen oberschwäbischen Kleinstädten und Großdörfern in den frühen 70er-Jahren selbstverwaltete Jugendzentren und realisieren auch etliche201. Unmittelbarer Anlass ist oft die „beschissene Freizeitsituation [...], der permanente Provinzmangel an Freizeit- und politischen Möglichkeiten“202. Als Gemeinderäte und Bürgermeister Räume verweigern und die ersten Jugendhäuser wegen unterschiedlicher Vorstellungen über erlaubtes und unerlaubtes Handeln geschlossen werden, schließen sich bis zu 15 Zentren und Initiativen im ehemaligen württembergischen Oberland und in der bayerischen Nachbarschaft zum ‚Jugendzentrums-Dachverband Oberschwaben-Bodensee-Allgäu‛ zusammen. Im Protest gegen das herrschende Bewusstsein der Region artikuliert sich regionales Bewusstsein. Es erscheint 1977 mit der wohl einzigen Nummer die ‚Rebellion‛, als „unabhängige, unzensierte Zeitung des Dachverbands“. Kurzfristig existiert eine mehrstufige Organisation der selbstverwalteten Jugendzentren mit regionalem Verband, mit Landes- und Bundestreffen.203

Maßgeblich trägt zur Vernetzung der Jugendzentrumsbewegung eine alternative Zeitschrift bei, der ‚Motzer‛. Er erscheint erstmals 1977 als ‚Schussenriader Jugend-Blättle‛ mit Attacken auf die dortige Kommunalpolitik204. 1978 werden die Sitzungen der Redaktion im Schussenrieder Jugendzentrum vom Bürgermeister als Begründung für dessen Schließung benutzt, worauf Blättle und Jugendzentrumsnetz zu einer großen Jugend-Demonstration mobilisieren. Das Schussenrieder wächst zum ‚Oberschwäbischen Alternativ-Blättle, in dem jeder schreiba ka ond soll, was er will, ozensiert‛ (Untertitel). Mit seinem Selbstverständnis als „Diskussionsforum“ ohne „eigene politische Meinung“, das prinzipiell jede Zuschrift abdruckt, die aber zum größten Teil aus der eher linken Szene kommen, sehen viele in ihm ein „Anarcho-Sponti-Szene-Blättle“, andere ein „Stück konkreter Widerstand“, das über vieles berichtet, worüber in der Presse der Region nichts zu lesen ist. „Die Provinz wurde kleiner, die eigene politische Isolation durchbrochen. Heute bestehen mehr oder weniger persönliche Kontakte vom Bodensee bis nach Biberach und von Biberach bis nach Sigmaringen [...]. Es wurde lebenswert, in der Provinz zu bleiben [...]. Der Motzer hat die Strukturen geschaffen und er hält sie aufrecht“205. Nach mehreren Krisen und Redaktionsgenerationen entschläft der Motzer 1981 trotz seines Erfolgs, „daß er die oberschwäbische Szene vernetzt hat [...]. Dr Blickwinkel für d’Region isch erscht dadurch entstanda“206.

Aber 1982 entsteht mit den ‚Südschwäbischen Nachrichten‛ ein Nachfolgeorgan, zunächst mit mehreren Lokal- und Ressortredaktionen und äußerlich professioneller aufgemacht, ein ‚Magazin für Gegenöffentlichkeit‛ und Versuch, das Meinungsmonopol der ‚Schwäbischen Zeitung‛ zu brechen. Den ungewöhnlichen Namen begründet das Editorial der Nummer 1: „Oberschwaben kennt jeder, aber Südschwaben - ein Unikum [...]. Lindau ist halt immer noch bayerisch [...]. Deshalb also: Südschwäbisch [...]. Unser Heft soll den Schwaben ihr Schwaben näher bringen“207. Neun Jahre später haben die restlichen Redakteure nach dauernder Selbstausbeutung und abnehmender Resonanz keine Lust mehr und verabschieden sich 1991 von ihren Lesern: „Vieles ist anders geworden, vor allem in und um die ‚neuen sozialen Bewegungen‛, aus denen die Südschwäbischen Nachrichten mittelbar hervorgegangen sind und auf die die SN oft Einfluß gewonnen haben [...], der regionale Anspruch der Zeitung ist zum regionalistischen verkommen, bei dem die nationalen und internationalen Zusammenhänge zu oft unter den Tisch fallen [...]. Wir waren Teil einer Bewegung und den damit verbundenen Hoffnungen und schreiben nun das Schlußkapitel mit“208.

Auch Oberschwaben hat seine Studentenbewegung, mit dem Zentrum an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten, einer Achse nach Biberach und eher schwachen Kontakten nach Konstanz. „Ganz Oberschwaben mußte von Junglehrern überschwemmt sein [...], die hier vor Jahren eine Bewegung in Gang gebracht hatten, in der [...] alle ganz entschieden andere geworden waren. Die große Zeit“209. Peter Renz schildert in seinem Schlüsselroman „Vorläufige Beruhigung“ die Hoffnungen, Aktivitäten, die persönlichen Veränderungen in sich verändernden Konstellationen. Nach Jahren treffen sich die Aktivistinnen und Aktivisten und unterhalten sich in ihren Fraktionierungen: die ‚Ökologengruppe‛, ‚Alternativgruppe‛, ‚Politikgruppe‛, ‚Frauengruppe‛, es fehlt die ‚Kulturgruppe‛210.

Selbst Kaderparteien versuchen die Provinz zu revolutionieren: „In seiner größten Zeit 1976/77 war der Bezirk Oberschwaben/Bodensee des KBW in allen größeren Städten [...] aktiv“211. „Blind wird jede Direktive auf das staunende Oberland übertragen“212. Den Kadern mit ihrem Durchblick folgten die „Magenschmerzenrevoltierer“213. Gegen die sog. Nachrüstung formieren sich in vielen Städten Friedensinitiativen, die 1983 ein „Oberschwäbisches Friedensmanifest“ für „wirkliche Abrüstung in Ost und West“, gegen die „Vorbereitungen zur Massenvernichtung“ veröffentlichen: „Alle Bürger Oberschwabens [sind] gefordert!“214Den für sie freigehaltenen Abschnitt der Menschenkette von Ulm bis Stuttgart 1983 können die Oberschwaben doppelt und dreifach besetzen. Ein ‚Frauenjahrbuch Bodensee-Oberschwaben‛ gibt 1983 den Frauengruppen, -Treffs, -Zentren und -Häusern im ‚alten Oberschwaben‛ zwischen Schwarzwald, Donau, Iller und Bodensee Gelegenheit zur Selbstdarstellung und will mit seinen Beiträgen helfen, „ein eigenes Bewußtsein und Selbstbewußtsein zu entwickeln [und das] Selbstverständnis durch den regionalen Bezug erweitern“. Das Vorwort konkretisiert diesen Bezug: „Die Wurzeln unserer Identität, unserer Vergangenheit mit dem Erfahrungsschatz der Geschichte sind an einen Raum gebunden [...], wir sind durch diesen Raum geprägt, begreifen ihn als Heimat mit allem Konventionalismus der Enge, aller Intoleranz der Provinz, aber auch aller Menschlichkeit und Unmenschlichkeit der Überschaubarkeit“215.

Die Kultur erweitert sich über die Veranstaltung der Kulturämter hinaus zur zunächst noch nicht verwalteten Sozio-Kultur216, Kultur und Politik gelten nicht mehr als Gegensätze. Bands wie ‚Schwoißfüaß‛ und ‚Grachmusikoff‛ fetzen ‚Schwaben-Rock‛ durch die Lautsprecher217, Künstler malen Transparente gegen Umweltzerstörung, das ‚Literarische Forum Oberschwaben‛ ist „Resonanzboden für jede Art kritischen Denkens“218. Ein Verlag mit dem schönen Titel ‚Drumlin‛ will „Gültiges über eine Region sagen“, kann aber die „Beschränktheit einer regionalen Welt“ nicht durchbrechen219. Ein Festival wie ‚Umsonst und Draußen‛ als Ober- und Südschwäbisches Woodstock polarisiert noch 1979 vehement Jugend-Rock-Szene und gute Bürger mit Verwaltung. Um 1980 ist in Oberschwaben eine Alternativszene entstanden, die 1979 93 Seiten im ‚Maulwurf Adreßbuch Bodensee – Oberschwaben - Schwäbische Alb – Allgäu‛ und 1983 im ‚Provinzbuch, Adressen & Tips für die Region Bodensee-Oberschwaben‛ 388 Seiten füllt220. Ein ‚Netzwerk Bodensee-Oberschwaben, Fonds für politische alternative Projekte‛ gibt so mancher Kooperative, manchem Laden, mancher Veranstaltung Starthilfe und Rückhalt. Munter freut man sich: „Weg von der Orientierung an den Metropolen! Es lebe die Provinz! Freiheit für Oberschwaben und Kalle! Fahrräder für alle!“221Angesichts solcher Zersetzungserscheinungen fordert der Biberacher Landrat die Polizei auf: „In den Kommunen trifft sich das ganze Gesindel! Fangt die Kerle und guckt, was sie treiben!“222

Ab Mitte der 80er-Jahre bröckeln die regionalen Strukturen, zehn Jahre später existiert kaum mehr etwas davon. Alternative Lebensformen werden toleriert, sind etabliert, bedürfen der regionalen Vernetzung nicht mehr. Soziokulturelle Angebote füllen die Veranstaltungskalender, die Jugendlichen lassen sich von den kommunalen Jugendhäusern verwalten, die politischen Hoffnungen sind geschwunden, die Probleme scheinen übermächtig. Viele der Älteren zählen jetzt zur ‚Toskana-Fraktion‛, die Jüngeren haben sich mit ‚No Future‛ abgefunden. Grüne und alternative Listenvertreter reden in Gemeinderäten, Kreistagen und Regionalversammlungen gegen Mehrheiten an. So mancher konkrete Vorschlag wird Jahre später aufgegriffen werden.

„Auf dem Weg zur zweiten Kraft in Oberschwaben“ entwickeln die Grünen um die Jahrtausendwende neue Initiativen für eine „große europäische Raumschaft Oberschwaben [...] mit regionalen Institutionen, wie sie bereits in anderen Regionen entwickelt wurden“223. Zum 18. Oktober 2000 laden sie zu einem ‚Regionaltag Oberschwaben‛ nach Aulendorf ein und schlagen die Bildung eines ‚Oberschwabentages‛ vor, um „die Interessen Oberschwabens in Stuttgart, Berlin und Brüssel durchzusetzen“224. Sie fordern die anderen Parteien, vor allem die CDU, auf, die Reihe der Oberschwabentage fortzusetzen, stoßen aber bei CDU und SPD auf Widerspruch: Wir „brauchen keine neue Ebene. Es gibt gute Kontakte [...]. Aber es gibt eben nicht das einheitliche Gebiet Oberschwaben [...]. So etwas widerstrebt sowieso der oberschwäbischen Mentalität, die kleinräumig denkt“225. So wird dieser Vorstoß abgeschmettert und es bleibt bei einem neuen Logo des Regionalverbands Bodensee-(Süd)Oberschwaben, um „regionales Bewusstsein bei der Bevölkerung [zu] wecken“226.

Die Landräte Oberschwabens haben sich nach 1948 zu eigenen Sprengelversammlungen getroffen, später reichen ihnen die Versammlungen aller Kollegen des Regierungsbezirks. So bildet heute der ‚Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke‛ die einzige sehr schwache politische Klammer Oberschwabens, denn die Landkreise sind heute über die OEW Hauptgesellschafter der EnBW227. In den Verwaltungsratssitzungen treffen sich regelmäßig die Landräte Oberschwabens, seit der Kreisreform von 1973 auch Kollegen weiterer im Westen und Norden anschließender Kreise. Regionalpolitische Bedeutung hat die OEW vor allem durch ihre großzügige Förderung der regionalen Kultur. Seit 1952 stellt sie wachsende Mittel vor allem für die Ankäufe alter und neuer Kunst, für Publikationen und Veranstaltungen zur Verfügung. Alle paar Jahre verleihen sie den ‚Oberschwäbischen Kunstpreis‛, früher eher nach Proporz als nach Qualität228. Unter den letzten Verbandsvorsitzenden hat die Kulturpolitik bedeutend an Profil gewonnen und folgt erkennbaren systematischen Sammlungszielen. „Der Spur der Kunst folgend ist die Sammlung gewachsen, dem Herkömmlichen verpflichtet, doch zunehmend offen auch für die Kunst der eigenen Zeit“229. Die „verlorenen Söhne und Töchter aus Oberschwaben, die von der OEW [...] aus dem Kunsthandel heimgeholt werden konnten ins ‚Oberschwäbische Himmelreich‛“, würden eine glanzvolle Galerie oberschwäbischer Kunst bilden, wären sie nicht zerstreut auf die einzelnen Landkreise230. Über einen eigenen Verein werden die Wiederentdeckung und die Aufführungen der Werke oberschwäbischer Klosterkomponisten gefördert. Die OEW gibt eigene Buchreihen mit Editionen regionaler historischer Quellen und älterer regionaler Literatur heraus.

Die Organisation der Künstler der Region, die ‚Sezession Oberschwaben-Bodensee‛, die fast 40 Jahre die Künstler der Region repräsentierte, ist 1985 „geradezu lautlos von der Bühne abgetreten“. Sie übersteht einen „generation gap“ nicht länger, die „Vereinigung von lauter Individualisten“ findet das Minimum an Verständigung nicht mehr, die regionale Orientierung hat an Bedeutung verloren231. Das ‚Literarische Forum‛ besteht zwar weiter, aber die oberschwäbischen Intellektuellen wollen wieder Schriftsteller sein und ziehen sich auf Formdebatten zurück.

Die Touristen umwirbt die ‚Oberschwaben Tourismus‛ und vermarktet unter dem Slogan „Seele lächle“, da eine „verbindende Klammer“ fehle, als „besonders attraktive Themen“: „Die Oberschwäbische Barockstraße. Die Kombination Radfahren, Wandern, Kultur. Familienferien. Gesundheit, Thermalbaden“. An den Straßenkreuzungen in der „lieblichen Landschaft mit den sanften Hügeln, den saftigen Wiesen mit den glücklichen Kühen“ stehen die Wegweiser der ‚Oberschwäbischen Barockstraße‛ mit Puttenköpfchen als Logo, das mittlerweile als heraldisches Symbol Oberschwabens gelten kann232.

Die politische Teilung Oberschwabens in zwei Regionalverbände suchen die beiden Industrie- und Handelskammern Ulm und Bodensee-Oberschwaben zu überspielen und geben ihre Zeitschrift ‚Wirtschaft zwischen Alb und Bodensee‛ gemeinsam heraus. Sie stimmen auch in die alte Klage über Oberschwaben „im Abseits“, im „Schatten der Landespolitik“ ein und gründen 1997 die ‚Initiative Oberschwaben‛, die die Region wenigstens aus dem Verkehrsschatten herausführen will233.

Was sich in Oberschwaben seit 1945 tut, berichtet mehr, manchmal weniger getreulich die ‚Schwäbische Zeitung‛, die ‚schwäbischte‛ aller Zeitungen nach Martin Walser. Kulturelle Ereignisse in Oberschwaben werden erst oberschwäbische Ereignisse durch die Berichte im Feuilleton, nach langem Warten endlich in ‚Kultur regional‛. Einst meinungsfreudig, heute blass, bleibt die ‚Schwäbische‛ doch bis heute oberschwäbische Monopolzeitung. Als ‚Zeitung für christliche Kultur und Politik‛ stellt sie sich selbst in die Nähe der Partei, die diesen Namen trägt. In der Vergangenheit hat sie durchaus nicht nur über oberschwäbische Regionalpolitik berichtet, sondern auch Regionalpolitik betrieben. Oberschwaben ist heute selten noch Thema, aber kaum mehr Ziel, die ‚Schwäbische‘ will verstärkt Landeszeitung sein. Nach dem Vorbild des ‚Südkurier‛ hat sie sich eine Oberschwaben- und eine Bodensee-Seite zugelegt, die Oberschwabenseite hat sie zugunsten von trendy Themen wieder aufgegeben. Tapfer versucht das ‚Kultur- und Veranstaltungs-Magazin Blix. Best of Oberschwaben‛ gelegentlich dort einige Schatten aufzuhellen, wo die ‚Schwäbische‛ lieber nicht genau hinsieht.

Im Medienzeitalter sind die Kommunikationsgrenzen gefallen. Es gibt zwar nicht wenige Organisationen, die das Wort Oberschwaben in ihrer Bezeichnung führen, aber wirklich raumorganisierende Kraft entfalten sie alle nicht und in der Summe kaum. Guntram Blaser bezeichnet die „Halbierung Oberschwabens“ mit der Verwaltungsreform 1973 als „dritte ‚oberschwäbische Teilung‛ nach der Auflösung des Herzogtums Schwaben und der Säkularisation“234. Der ‚oberschwäbischen Krankheit‛ der Uneinigkeit zum Trotz und um „die Kluft zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur immer wieder zu überspringen“, wird 1996 in Weingarten wieder eine ‚Gesellschaft Oberschwaben‛ gegründet, allerdings nur ‚für Geschichte und Kultur‛. Sie will aber mehr als ein regionaler Geschichtsverein sein und setzt sich laut Satzung zum Ziel, „zur Entwicklung und Stärkung oberschwäbischen Regionalbewusstseins beizutragen“235. Drei Initiativen finden hier zusammen: eine kulturpolitische des Ravensburger Landrats Dr. Guntram Blaser, eine forschungspolitische des Berner Professors Dr. Peter Blickle und eine auf fachliche Kooperation in der Region zielende des Leiters des Kulturamtes Bodenseekreis. Die Gesellschaft versammelt jährlich ihre Mitglieder zu ‚Oberschwabentagen‛, lädt ein zu Exkursionen, Vorträgen und Tagungen, protegiert Ausstellungen zur Gegenwartskunst, gibt Bücher und eine Zeitschrift heraus. Als ihr Logo hat die Gesellschaft das rot-weiße Fähnlein der oberschwäbischen Bauern von 1525 gewählt. Der vom ersten Vorsitzenden Prof. Blickle propagierte Gedanke eines ‚contrat culturel‛ mit der Wirtschaft führt zur ‚Stiftung Oberschwaben‛. Sie ermöglicht der Gesellschaft die Beteiligung an der großen Landesausstellung 2003 in Bad Schussenried „Alte Klöster – Neue Herren“ zur Säkularisation und 2006 in Sigmaringen die Regionalausstellung „Adel im Wandel“ zur Mediatisierung in Eigenverantwortung236. Der Vorsitzende Prof. Blickle realisiert in den ersten Jahren der Gesellschaft ein umfangreiches Forschungs- und Publikationsprogramm zu den „Verborgenen republikanischen Traditionen in Oberschwaben“237. Damit wird der Bogen von der Geschichte zur Gegenwart geschlagen, denn die „regionale Methode, mit der hier Geschichte und Kultur rekonstruiert wurden, könnte ein nützliches Konzept werden, die Vergangenheit auf neue Weise umfassender zu erschließen, die Herkunft der Gegenwart präziser zu beschreiben und die Zukunft optimistischer zu entwerfen“238. Ebenfalls personell mit der Gesellschaft Oberschwaben verbunden ist die ‚Stiftung Friedrich Schiedel Wissenschaftspreis zur Geschichte Oberschwabens‛. Ihre sieben Preisträger haben zu wichtigen Teilbereichen der Geschichte Oberschwabens unsere Kenntnisse wesentlich erweitert239. Auch wenn die Historiker der benachbarten Landesuniversitäten Tübingen, Freiburg und Konstanz Oberschwaben seit langem ignorieren, sind durch das Wirken der Gesellschaft Oberschwaben und den ‚Bücherfrühling‛ der letzten Jahre die bislang mit regionalkundlicher Literatur über Oberschwaben schwach besetzten Buchregale beträchtlich aufgefüllt worden. Kann die verstärkte Buchproduktion als Indiz für ein wachsendes Regionalbewusstsein gewertet werden?

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