Elmar L. Kuhn

Oberschwaben - eine Region als politische Landschaft ...


Frühe Neuzeit: Ein Viertel bleibt ein Ganzes

1525 verhindert der Schwäbische Bund die „Revolution des gemeinen Mannes“, die die politische Landkarte Oberschwabens völlig verändert hätte, und rettet die kleinen Landesherrschaften. Aber nach Abwehr der unmittelbaren Gefahr schließt die Kosten-Nutzen-Rechnung für die Mitglieder des Bundes negativ ab: Der Schwäbische Bund wird zum „Dinosaurier: zu schwerfällig, zu unsensibel, zu groß, zu teuer unzeitgemäß“60. 1534 wird er dann nicht mehr erneuert. Die mindermächtigen Stände streben wieder kleinräumigere Organisationen an. Schon 1520 hatte der Graf von Montfort eine besondere Vereinigung der oberschwäbischen Stände vorgeschlagen. In der Endphase des Schwäbischen Bundes, von 1529 bis 1535 finden sich in einem 1532 durch Iller oder Lech, Hegau und Schwarzwald, Donau und Bodensee umrissenen Raum Adel, Prälaten und Städte in wechselnden, immer nur kurzfristigen Bünden und Einungen zusammen, teils aus Eigeninteresse „zur Aufrechterhaltung guter Nachbarschaft“, teils von Habsburg initiiert zur Stabilisierung seiner Klientel. Göttmann sieht hier eine „Region verdichteter politischer und sozialer Beziehungen vor uns, die raumbildend wirkten [...]. [Es] zeichnet sich ein über Jahrhunderte stabiler Kernraum ab, der sich [...] auf lange Sicht institutionell verfestigte“. Die „mindermächtigen Stände [überführten] die Einung als Instrument der politischen Selbstorganisation und Herrschaftssicherung in dauerhafte institutionelle Strukturen“61.

Der Schwäbische Bund ist Vorläufer und Konkurrent des Schwäbischen Kreises zugleich. Denn aus dem gleichen Bedürfnis nach Sicherung des Landfriedens, dem auch der Schwäbische Bund dient, hat es im Spätmittelalter immer wieder Versuche gegeben, das ganze Reich in Landfriedensbezirke einzuteilen. Im Zuge der Reichsreform wird 1500 und 1512 das Reich in Reichskreise eingeteilt62. Entscheidende Schritte erfolgen auf dem Wormser Reichstag 1521 und mit der Verabschiedung der Reichsexekutionsordnung durch den Augsburger Reichstag 1555. 1517 und 1522 werden die schwäbischen Stände erstmals zu Kreistagen einberufen, ab 1541 tagen sie einigermaßen regelmäßig. Der Kreis ist „als Organ des Reiches ein [...] körperschaftlich verfaßter Reichsverwaltungsbezirk; gleichzeitig aber formieren die Reichsstände zum Zwecke kollektiver politischer Selbstbehauptung einen Ständebund“63. Als Reichsorgan hat der Kreis den Landfrieden zu sichern, die Urteile des Reichskammergerichts zu vollstrecken, Beisitzer zu diesen Gerichten zu wählen und Kreistruppen aus den Kontingenten seiner Mitgliedsstände zu stellen. Als Selbstverwaltungsverband übernimmt der Kreis Aufgaben im Bereich der Wirtschaft, des Wohlfahrts-, Steuer- und Polizeiwesens. Der Schwäbische Kreis entwickelt von allen zehn Reichskreisen die größte Aktivität. Hier ist auch die Notwendigkeit des Zusammenwirkens am größten, denn kein anderer Kreis zählt so viele Mitglieder wie der Schwäbische Kreis, unter denen keine Macht ganz einseitig dominiert. Er umfasst ca. 100 Herrschaften zwischen Rhein und Lech, zwischen Bodensee und Jagst. Das größte Gewicht hat der Herzog von Württemberg als Kreisdirektor, dem die Kreiskanzlei unterstellt ist, und als kreisausschreibender Fürst zusammen mit dem Bischof von Konstanz . Der Kreistag ist in fünf Bänke gegliedert - um 1800 vier geistliche Fürsten, 13 weltliche Fürsten, 23 Prälaten, 28 Grafen und Herren und 31 Reichsstädte. 1563 werden vier Kreisviertel eingerichtet. Das dritte oder Konstantische Viertel mit dem Bischof von Konstanz als Direktor reicht von der Iller bis Bonndorf im Schwarzwald und überschreitet mit wenigen Herrschaften nördlich die Donau. Das vierte oder augsburgische Viertel mit dem Bischof von Augsburg als Direktor fasst den Raum zwischen Iller und Lech zusammen. Das dritte Viertel wird gelegentlich auch das oberschwäbische genannt, in ihm sind fast die Hälfte aller Kreisstände vereint und es entfaltet von allen Vierteln die regste Tätigkeit. Auch nach der Kreispublizistik sind die Kreisviertel „eigene Gesellschaften zur Erhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie zur Vornahme polizeilicher Anstalten“64. Dazu zählen insbesondere die Organisation der Landmiliz, von Truppendurchmärschen, die Verfolgung von ‚Jaunern‛, der Unterhalt eines Zucht- und Arbeitshauses, der Straßenbau, Münzpolitik und die Fruchtausfuhrpolitik am Bodensee in Kriegs- und Notzeiten. Führen die Viertelskonvente zunächst nur politische Vorgaben des Kreises aus, so „bereiteten sie doch zunehmend Kreisentscheidungen eigenständig vor und handelten am Ende des Jahrhunderts völlig selbständig“65. Die Vertreter der einzelnen Stände treffen sich in den Konferenzen der Grafen-, Prälaten- und Städte-‚Bänke‛ des Kreises, in denen die Entscheidungen vorberaten werden. Da die Mitglieder dieser drei Bänke mehrheitlich in Oberschwaben residieren, tragen diese Beratungen ebenfalls zur Verdichtung der regionalen Kommunikation bei.

Der Schwäbische Kreis und damit auch sein oberschwäbisches Konstanzer Viertel ist kein flächendeckender Herrschaftsverband, denn ihm gehören die österreichischen Gebiete und die Herrschaften der Reichsritter nicht an. In Kriegszeiten kommt es gelegentlich zu einem Zusammenwirken von Kreisviertel, österreichischen Herrschaften und Ritterschaftsvertretern. Unter dem Druck der Not findet dann ganz Oberschwaben westlich der Iller zu kooperativem Handeln zusammen.

Der Schwäbische Bund hat für seine Mitglieder den definitiven Aufstieg zur Reichsunmittelbarkeit entschieden, der Schwäbische Kreis gibt ihnen den nötigen Rückhalt bei den fortdauernden Versuchen Österreichs, sie in eine formelle Abhängigkeit zu zwingen. Zwar hat Österreich schließlich im 16. Jahrhundert den Versuch aufgegeben, über die Landvogtei den Aufbau eines schwäbischen Fürstentums voranzutreiben, doch nutzt es nun das kaiserliche Landgericht als angeblich weiteren Traditionsträger des schwäbischen Herzogtums, um daraus eine ‚superioritas territorialis‛ abzuleiten: Ubi jurisdictio, ibi territoriumargumentieren im 17. Jahrhundert Vertreter Österreichs66. Mitte des 16. Jahrhunderts gelingt es, den Gerichtssprengel beträchtlich auf das gesamte Gebiet zwischen Lech und Schwarzwald, im Norden bis zum Herzogtum Württemberg auszuweiten, auf das „Land zu Schwaben“ nach Innsbrucker Sprachgebrauch. Dass nach dem Dreißigjährigen Krieg Österreich seine Ansprüche wieder zurücknehmen muss, verdanken die oberschwäbischen Städte Ludwig XIV. Österreich ist nun auf die Kriegshilfe des Schwäbischen Kreises und seiner Stände angewiesen, ganz mag es aber bis zum Ende des alten Reiches nicht auf seine Ziele des Herrschaftsaufbaus verzichten.

Immer wieder geraten österreichische Territorialpolitik und die Strategie eines österreichischen ‚nichtterritorialen Herrschaftssystems‛ in Form eines Satelliten- und Klientelsystems in Konflikt miteinander. Seit Ende des 17. Jahrhunderts überlässt Österreich oberschwäbischen Herrschaften immer mehr Rechte, insbesondere das Hochgericht zur Abrundung der Landesherrschaft. Doch kurz vor dem Verlust der Vorlande stärkt es seine territoriale Position nochmals mit etlichen Erwerbungen: Tettnang, Lindau, Rothenfels, Neuravensburg und den Epaven-Usurpationen. Schon seit dem Anfall von Hohenems 1765 redet es unmittelbar in den Kreis- und Viertelstagen des Schwäbischen Kreises mit. In der Regel kann sich Österreich freilich auf den Bischof von Konstanz als getreuen Vertreter seiner Interessen im Kreis verlassen67.

Die Landvogtei mit ihrem Sitz in Altdorf deckt sich mit dem engeren Oberschwaben. Im nördlichen Raum zwischen Iller und Lech liegt die österreichische Markgrafschaft Burgau mit Sitz in Günzburg, im westlichen Randbereich Oberschwabens im Hegau besitzt Österreich die Landgrafschaft Nellenburg mit Sitz in Stockach, außerhalb Oberschwabens an der oberen Donau und am oberen Neckar die Grafschaft Hohenberg mit Sitz in Rottenburg. Diese vier Gebiete werden seit 1536 zu ‚Schwäbisch-Österreich‛ zusammengefasst, einem ‚Land‛ ohne eigene Regierung, das nur von seinen Untertanenvertretern, den in Ehingen tagenden Landständen repräsentiert wird68. Seine Einzelherrschaften werden von Beamten, an der Spitze den Landvögten, verwaltet und direkt von Innsbruck aus, ab 1753 als Bestandteil der Provinz Vorderösterreich von Konstanz, ab 1759 von Freiburg aus regiert. Erst 1769 wird den schwäbisch-österreichischen Ständen ein Oberdirektor vorgesetzt.

Die aus dem Spätmittelalter überkommene Raumstruktur in Oberschwaben stabilisiert Österreich durch seine wiederkehrenden Versuche, in seinen Anspruchsbezirken von Landvogtei und Landgericht die Herrschaftsrechte zu intensivieren. Darüber hinaus deckt sich der Streubereich von Schwäbisch-Österreich mit dem kleinteiligen Flickenteppich der mindermächtigen Reichsstände zwischen den größeren Territorialkomplexen. Österreich bindet viele dieser Herrschaften durch sein Klientelsystem an sich und es zwingt sie aber auch durch seine Angriffe zu engerem Zusammenschluss.

Außerhalb des Schwäbischen Kreises bleiben nicht nur die österreichischen Herrschaftsgebiete, sondern auch der ritterschaftliche Adel69. Er organisiert sich Mitte des 16. Jahrhunderts selbstständig in der Reichsritterschaft, in Schwaben im Schwäbischen Ritterkreis. Seine Gliederungen, die Kantone, führen die Einteilung des St. Jörgen-Schildes in Viertel fort, in Oberschwaben der Kanton Donau mit der Kanzlei in Ehingen und der Kanton Hegau-Allgäu-Bodensee mit Kanzleien für seine beiden Bezirke in Wangen und in Radolfzell. Die Reichsritter sind im besonderen Maß Loyalitätskonflikten ausgesetzt: Auf kaiserlichen Schutz angewiesen, von österreichischen und anderen territorialen Ansprüchen bedroht, als Teil der österreichischen Klientel. Die Donauritterschaft stellt seit dem späten 17. Jahrhundert in der Regel den Bischof von Konstanz und sichert über ihn den österreichischen Einfluss im Schwäbischen Kreis.

Schwäbische Kreisviertel, Schwäbisch-Österreich, Landvogtei, Ritterschaftskantone – kein Verbund organisierte Oberschwaben in seiner Gesamtheit, konnte und wollte es repräsentieren (mit der Ausnahme der Landvogtei). Alle zusammen mit ihren unterschiedlichen Abgrenzungen lassen in ihren Überlagerungen die Konturen der politischen Landschaft hervortreten. In den vielfachen Konferenzen und im häufigen Wechsel der leitenden Beamten konstituierte sich ein dichtes Kommunikationsgeflecht. Es „scheint sich so etwas wie eine gesamtoberschwäbische Amtsträgerschicht herausgebildet zu haben.“70

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