Elmar L. Kuhn

Der Bauernkrieg von 1525 in Oberschwaben


Ein oberschwäbischer Gesellschaftsvertrag

Historische Erinnerung kann nicht nur Erinnerung an Fakten und damit an Zwangsläufigkeiten sein. Geschichte wird immer auch nach Korrespondenzen zur Gegenwart suchen, werden Situationen, wo sich Geschichte öffnete, alternative Verlaufsmöglichkeiten und Handlungsoptionen aufblitzten, besonderes Interesse finden.

Nach den gängigen klassischen Theorien konstituiert sich eine Gesellschaft durch einen Gesellschaftsvertrag, dem nach Hobbes ein Unterwerfungsvertrag folgt. Oberschwaben vor 1525 kann als ein Nebeneinander von jeweils durch ihre Herrschaften vertikal integrierten Kleingesellschaften aufgefasst werden, die partiell wirtschaftlich vernetzt waren. In den Einungsschwüren auf die Haufen und schließlich die Christliche Vereinigung konstituierte sich die oberschwäbische Gesellschaften neu horizontal. Dieser neue Gesellschaftsvertrag bedeutete gleichzeitig die Kündigung des bisherigen Unterwerfungsvertrags, dem kein neuer Unterwerfungsvertrag folgte, sondern ein Prozess politischer Institutionenbildung, bei der Führungsnotwendigkeit und breite Mitsprachemöglichkeiten gegeneinander abgewogen wurden. Herrschaft sollte durch gestufte Selbstverwaltung abgelöst werden. Gleichzeitig bekannten sich die Gesellschaftsglieder zu einem Fundamentalprinzip ihres Gemeinwesens, der göttlichen Gerechtigkeit. Gemeinwesen lassen sich nach christlicher Lehre nur durch ihren Zweck rechtfertigen. Nach Augustinus sind Gemeinwesen ohne Tugend nur Räuberbanden. Aus dem Fundamentalprinzip der göttlichen Gerechtigkeit wurden in den Programmen die Grundwerte Freiheit, Friede, Gerechtigkeit, gemeiner Nutzen, also Gemeinwohl, und gelegentlich Hausnotdurft, d.h. auskömmliche Existenz, abgeleitet. In modernerer Terminologie wurden damit die Ziele der französischen Revolution Freiheit, (relative) Gleichheit, Brüderlichkeit, wurden Elemente modernen Rechtstaates und Sozialstaates vorweggenommen, wurden Prinzipien heutiger Soziallehre wie Subsidiarität und Solidarität konkretisiert.

Diese Versuche späterer Kategorien- und Theoriebildung waren dem damaligen, wenig systematischen Denken fremd. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass die damaligen Programme und Organisationsansätze eine innere Logik enthielten, die spätere Theoretiker entfaltet haben. Nach Peter Blickle kann Oberschwaben stolz sein auf seine Tradition des Kommunalen, des Republikanischen. „In dieser Tradition wurzelt seine Humanität“25. Stolz ist nur gerechtfertigt, wenn das Erbe als Aufgabe begriffen wird. Jede soziale Bewegung hat den Auftrag hinterlassen, „machts besser“. Der in seinem ersten Teil nicht ganz gerechtfertigte Spruch aus dem Bauernkrieg ist bekannt: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus“. Oder mit Walter Benjamin esoterischer formuliert: „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit sich, durch den sie auf Erlösung verwiesen wird. Uns ist wie jedem Geschlecht vor uns eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat“26.

Die Bauern von 1525 haben uns einen Begriff hinterlassen, den sie nicht einlösen konnten, der nie ganz einlösbar ist, und der doch dauerhaft ein Stachel bleiben muss: den Begriff der göttlichen Gerechtigkeit. Es ist ein missdeutbarer, missbrauchbarer Begriff, da immer subjektive Interpretationen in ihn eingehen, er wäre heute durch den blasseren Begriff des Naturrechts zu ersetzen. Ausformuliert wurde er seither in den Grund-, Menschen- und Bürgerrechten vieler Verfassungen, die durch Grund- und Bürgerpflichten zu ergänzen sind. Wie immer interpretiert, legt der Begriff göttliche Gerechtigkeit ein Anspruchsniveau fest, an der sich immer soziale Realität zu messen hat. Vielleicht ist dieser Begriff als Aufforderung, Kritik, Maßstab das wichtigste Vermächtnis, das uns die oberschwäbischen Bauern hinterlassen haben.

Veröffentlicht in: Hans Ulrich Rudolf (Hg.): 475 Jahre Bauernkrieg in Oberschwaben 1525-2000. Ravensburg: Kreissparkasse, 2000, S. 16-29.

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