Die Ordnungen haben den Kampf zu regeln, ein momentanes Machtvakuum zu füllen. Grundzüge einer angestrebten neuen Gesellschaftsordnung werden formuliert in den programmatischen Dokumenten, den Artikeln und Schreiben. Zentralbegriff ist das „göttliche Recht“, die „göttliche Gerechtigkeit“. Stereotyp wiederholen die Rappertsweiler in allen Schreiben, dass sie „nichts anderes als die göttliche Gerechtigkeit begehren“13. Das göttliche Recht ist kein neuer Begriff. Schon nach Thomas von Aquin ergibt sich aus dem göttlichen Gesetz das Naturrecht, nach dem sich menschliches Recht zu richten hat. „Es ist naturhaftes Recht, was göttliches Gesetz und Evangelium enthalten“14. Und schon vor dem Bauernkrieg argumentieren Bauern mit dem göttlichen Recht, so 1470 gegen die Einschränkung der Eheschließung durch den Abt von Salem und in den Bundschuhrevolten. Neu im Bauernkrieg ist als Folge der Reformation die Zerstörung der Autorität der Kirche, die bisher die Interpretationshoheit, was konkret Göttliches Recht hieß, behaupten konnte. Das reformatorische Grundprinzip „sola scriptura“, die Schrift allein, lässt nurmehr das Evangelium als Richtschnur für das menschliche Handeln zu, öffnet es aber auch für Auslegungen durch jeden Gläubigen. Dass jeder Christenmensch sein eigener Seelsorger sein kann, und dass das tausendjährige Werk der römischen Autorität nicht mehr gelten soll gegenüber dem lebendigen Verstehen der Heiligen Schrift, ist eine umstürzende, befreiende Meinung: „Wir wollen das Gotteswort und Evangelium helfen fördern und predigen ... und nicht mehr Mummenschanz und Menschentand und unter den Marienmantel schlüpfen und Verführen und Bescheißen der Leute (mehr dulden), die goldenen Messen sind aus, das Evangelium Christi ist im Haus“, schreibt der Pfarrer von Esseratsweiler und Kanzlist des Rappertsweiler Haufens seinem altgläubigen Kollegen in Opfenbach15. Freilich, als die Herren des Schwäbischen Bundes Ulrich Schmid fragen, wer denn das göttliche Recht weisen solle, „Gott wird ja kaum vom Himmel steigen und uns einen Rechtstag halten“ kann Schmid nur auf „gelehrte, fromme Männer“ verweisen, die den Streit nach göttlicher Schrift entscheiden sollen16. Er verweist auf die Reformatoren, also auf neue kirchliche Autoritäten, die sich rasch mehrheitlich vom Vorgehen der Bauern distanzieren, deren Interpretation des Evangeliums gerade nicht teilen. Luther lehnt jegliches „fleischliches“ Verständnis des Evangeliums strikt ab. Nur Zwingli, der Züricher Reformator, der auch in Oberschwaben und vor allem auf Christoph Schappeler, dem Memminger Prediger, Einfluss besitzt, sieht in der göttlichen Gerechtigkeit auch eine Norm für das öffentliche Leben. „Alle alten und bestehenden Gesetze ... (müssen geprüft werden), ob sie dem göttlichen Gesetz des Nächsten und der Natur entsprechen oder dawider sind“17.
Das Bewusstsein, dass ihre bisherigen Beschwerden durch eine missbräuchliche Interpretation des Wortes Gottes bedingt sind, und sie nun nicht nur das alte Recht, sondern Gott selbst auf ihrer Seite haben, gibt der Bewegung der Bauern ihre ungeheure Schubkraft. Schuld an der Empörung sind die alte Kirche und die Herren, gerechtfertigt ist die Empörung durch die Bibel. Golo Mann schreibt: „Wann immer in der Geschichte Europas das einfache Volk mit den ursprünglichen Texten des Evangeliums in Berührung kam, dann entbrannte sozialer Aufstand, denn es ist eine Botschaft der menschlichen Gleichheit und Gerechtigkeit und den Reichen feindlich gesinnt“18. Voll Zuversicht und Pathos glaubt Christoph Schappeler in der Vorrede zu den Zwölf Artikeln: „Ob aber Gott die Bauern erhören will, wer will den Willen Gottes tadeln? Wer will in sein Gericht greifen? Wer will seiner Majestät widerstehen? Hat er die Kinder Israels erhört und aus der Hand Pharaos gerettet, mag er nicht noch heute die seinen erretten? Ja er wird sie erretten! Und in Bälde!“19. Was aber der rechte Glaube sei, das beansprucht in Zukunft die Gemeinde zu definieren. Denn sie will die Pfarrer wählen, die „das heilige Evangelium lauter und klar predigen“. Alle in den Zwölf Artikeln aufgezählten gesellschaftsveränderden Forderungen werden mit Schriftzitaten begründet, bei den wichtigsten wird nochmals eigens auf die Schrift verwiesen:
„Der rechte Zehnt ist aufgesetzt im alten Testament und im neuen erfüllt ... den kleinen Zehnt wollen wir gar nicht geben, denn Gott der Herr hat das Vieh frei den Menschen geschaffen“. Vom freien Vieh zum freien Menschen, die Abschaffung der Leibeigenschaft als wichtigste Stütze des Feudalsystems: „Christus hat uns alle mit seinem kostbaren Blutvergießen erlöst und erkauft, den Hirten gleich als wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum findet sich in der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen“. Und „als Gott der Herr den Menschen schuf, hat er ihm Gewalt gegeben über alle Tiere, über den Vogel in der Luft und über den Fisch im Wasser“.
Die Zwölf Artikel sind kein abschließender Forderungskatalog, die Bauern behalten sich vor, ihr Programm zu erweitern, „wenn sich in der Heiligen Schrift mit der Wahrheit mehr Artikel finden die wider Gott und die Beschwernis des Nächsten“ sind20. Die Bauern beteuern zwar unentwegt, sie wollten ihrer Obrigkeit nicht den Gehorsam aufkündigen, aber immer mit der Einschränkung, „was man von göttlichem Recht zu tun schuldig“ sei21. Das zu definieren, dieses Recht sprechen sie ihrer Obrigkeit ab und nehmen es für sich in Anspruch.