Elmar L. Kuhn

Der Bauernkrieg von 1525 in Oberschwaben


Die Organisation

Elemente einer künftigen politischen Ordnung sind über die Stärkung der Gemeinderechte hinaus den Zwölf Artikeln nicht zu entnehmen, der Bundesordnung nur die Wahl aller Amtsträger. In den Rappertsweiler Artikeln wird der Gemeindeautonomie ein stärkerer Stellenwert zugemessen mit der Wahl der Richter durch das Volk und vor allem einer Reihe von Regelungen zur Erhöhung der Rechtssicherheit und zur Garantie fairer Prozesse. Aber auch hier gehen die Vorstellungen über die Gemeindeebene nicht hinaus, biblische Argumente fehlen bei diesen politischen Programmpunkten, wenn auch naturrechtliche Begründungen durchscheinen.

Begründung und Modell für eine nicht mehr nur kommunale, sondern republikanische politische Ordnung liefert eine anonyme Flugschrift „An die Versammlung gemeiner Bauernschaft“, als deren Autor Peter Blickle Christoph Schappeler, Prediger in Memmingen und Mitautor der Zwölf Artikel, identifiziert hat22. Aus Altem und Neuen Testament wird abgeleitet, Obrigkeit habe die Welt zu verbessern, auf Amtsmissbrauch folge Absetzung, wer Knecht sei, soll sich befreien, Kaiser und Papst sind gewählt, also könne man sie auch absetzen. Es gäbe keine zwei getrennte Gebote, „göttliche, die das Seelenheil betreffen, und politische, die den gemeinen Nutzen, das Gemeinwohl betreffen. Politische Gebote sind auch göttliche. Das Gemeinwohl zu fördern, ist nichts anderes als die brüderliche Liebe zu üben, was der Seeligkeit höchstes Verdienst ist“. Als die Römer und Israeliten sich durch ein gemeinsames Regiment, d.h. durch ein gewähltes Gremium regierten, mehrte sich ihre Macht, als sie davon abfielen, kamen sie in „Elend und Jammer“. „Ob ihr jetzt Schneider, Schuster oder Bauern als Obrigkeit einsetzt, soll man sie wie König und Kaiser halten, solange sie dem göttlichen Recht entsprechend amtieren ...“. „Doch haltet oft Gemeinde untereinander, denn nichts hält den gemeinen Haufen herzlicher zusammen“. Gewählte Repräsentanten unter starker Basiskontrolle, Schappeler führt aus, ergänzt und propagiert, was die Memminger Versammlung in der Bundesordnung geregelt hatte. Diese Position hätte man durchaus auch schon bei Thomas von Aquin finden können, der ein Miteinander von Königtum und Volksherrschaft empfahl, da die „Wahl der Fürsten ans Volk gehört“23.

Klarer als in den programmatischen und propagandistischen Schriften werden die politischen Vorstellungen der Bauern in ihrer realen Organisation in Oberschwaben (vgl. dazu die Karte). Die Selbstorganisation der Bauern erfolgt in mehreren Stufen. Unterste Grundeinheit sind in den Artikeln geforderten starke Gemeinden (Stufe 1). Die Bauern mehrer Gemeinden finden sich in „Plätzen“, Marktflecken, Kleinstädten oder anderen zentralen Orten zusammen (Stufe 2). Im Seehaufen operieren mehrere Plätze zusammen in den Abeilungen des Rappertsweiler, Bermatinger und Altorfer Haufens, der Allgäuer Haufen setzt sich aus Ober- und Niederallgäuern zusammen, bei den Baltringern unterscheidet man gelegentlich nach dem unteren und oberen Baltringer Haufen (Stufe 3). Die drei Haufen der Baltringer, Allgäuer und Seebauern (Stufe 4) bilden gemeinsam die „Christliche Vereinigung“ (Stufe 5). Alle Amtsträger werden gewählt, die Vorsteher der Gemeinden, Räte und alle Hauptleute der Plätze, die Obristen und Räte der (Abteilungs-) Haufen. Die Obristen der drei Haufen zusammen mit je vier Räten bilden die kollektive Spitze der christlichen Vereinigung. Obristen und Räte der Haufen zusammen mit den Hauptleuten und Räten der Plätze treten zum Memminger Bauernparlament zusammen, der „Ehrsamen Landschaft der Christlichen Vereinigung“.

Wie kommt es zu diesen verschiedenen Organisationsstufen? Raumgliederung richtet sich nach Kontaktkreisen, zum großen Teil nach Wirtschaftsräumen. Die Dörfer sind auf einen „Standardmarkt“ in einem Marktflecken oder einer Kleinstadt orientiert, der alle bäuerlichen Bedürfnisse befriedigen kann. „Die Marktregion ... ist die grundlegende Einheit bäuerlichen Wirtschaftens“24. Das soziale Beziehungsnetz der Bauern ist tendenziell auf das Einzugsgebiet dieses Marktortes beschränkt. Auch herrschaftliche Verwaltungs- und Gerichtssitze, Sammelstellen für Abgabenlieferungen und im Streusiedelgebiet die Pfarrorte sind Zentren bäuerlicher Kontaktplätze. Hof, Gemeinde und durch Markt, Herrschaft und Kirche bestimmte Kleinregionen sind entscheidende Handlungs- und Bewusstseinsräume der Bauern. Der Radius einer Kleinregion des Umlandes eines Marktortes überschreitet in der Regel 10 bis 15 km nicht. Die „Plätze“ sind Mittelpunkte solcher klein(st)regionaler Kontakträume. Dass sich der Seehaufen besonders kleinräumig organisiert, mag an der höheren Bevölkerungsdichte und der besonders starken Marktintegration des Weinbaugebiets liegen. Die Haufeneinteilung folgt den Markteinzugsbereichen oberhalb der Ebene der „Standardmärkte“. So lag der Rappertsweiler Haufen im Einzugsgebiet Lindaus, der Bermatinger Haufen im Umland Überlingens, die nördlich davon gelegenen Plätze im Ravensburger Umland. Die Oberallgäuer orientierten sich nach Kempten, bei den Niederallgäuern überschnitten sich die Einzugsbereiche von Wangen, Isny und Leutkirch. Im Gebiet des oberen Baltringer Haufens war Biberach, beim unteren Haufen südlich Memmingen die dominante Marktmetropole, nördlich wohl Ulm.

Genauer lassen sich Funktion und Einzugsbereiche der „Plätze“ im Bereich des Seehaufens bestimmen. Die Funktion eines Standardmarktes hatten Langenargen, Tettnang, Markdorf, Meersburg und wohl auch Altdorf, während Wasserburg, Rappertsweiler, Neuravensburg, Amtzell, Ailingen und Owingen wohl wegen ihrer Funktion als lokale Verwaltungssitze und zum Teil Gerichtsorte als Versammlungsplätze gewählt wurden. Ein Sonderfall ist der Abteilungshaufen im Altdorfer Feld, in dem sich alle Bauern unter der Oberherrschaft der Landvogtei in einem weiten Umkreis zusammenfinden.

Die bäuerliche Organisation überlagerte weitgehend die seinerzeitige politische Landkarte der Herrschaften, sie war an einem System sogenannter „Zentraler Orte“ orientiert, wie man es erst im 20. Jahrhundert entdeckt hat, und wonach man Unter-, Mittel-, Oberzentren unterscheidet. Als Unterzentren können die Plätze aufgefasst werden, die Abteilungshaufen orientieren sich an Mittelzentren, während die benachbarten Oberzentren Ulm und Augsburg auf die bäuerliche Organisation kaum Einfluss hatten.

Copyright 2024 Elmar L. Kuhn