Elmar L. Kuhn

Die Säkularisierung Oberschwabens


„Standortbestimmungen“

Im Zuge der Bildung von sog. Seelsorgeeinheiten, „aus der Not geboren, (um)...die Gemeinden unter den gegebenen Bedingungen bei der Wahrnehmung ihres Auftrags zu unterstützen“, hatten alle Pfarrgemeinden der Diözese Rottenburg 1999 bis 2000 sog. „Standortbestimmungen“ zu erstellen, die einen guten Überblick über die gegenwärtige Situation allerdings weniger der Gemeinden, als in den Gemeinden geben.57

Die 29 Pfarreien mit 61 212 Katholiken, zusammengefasst in acht Seelsorgeeinheiten, des Dekanats Friedrichshafen werden von 16 Priestern (davon 11 Pfarrer), sieben Diakonen, 1,5 Pastoralreferenten und sechs Gemeindereferent/inn/en betreut.58Zehn dieser Pfarreien liegen im Stadtgebiet von Friedrichshafen. Die kleinste, Wildpoltsweiler, zählt 473, die größte, Tettnang, 7855, die größte im Stadtgebiet Friedrichshafen 5591 Katholiken. Zusammen mit den Pfarrern, formell aber nur beratend, tragen in jeder Pfarrei Kirchengemeinderäte mit sechs bis sechzehn Mitgliedern „die Verantwortung für das Gemeindeleben“.59Die Räte gliedern sich wiederum in bis zu neun Ausschüssen für einzelne Tätigkeitsgebiete. Fast alle Pfarreien sind Träger von Kindergärten, in einigen Fällen auch von Sozialstationen, Friedhöfen und von kleineren Büchereien, fast alle Pfarreien verfügen über Gemeindezentren und –häuser für ihre Veranstaltungen. Sie beschäftigen in unterschiedlichsten Zeitanteilen Kirchenpfleger, Sekretariatskräfte, Mesner, Hausmeister, Kantoren, Organist/inn/en, Kindergärtnerinnen, Angestellte in sozialen Bereichen, viele Gemeindemitglieder engagieren sich ehrenamtlich. Sie treffen sich in Sitzungen, Versammlungen, „Hocketen“, Festen und der Gemeindeversammlung.

Bei den Gottesdiensten bemüht man sich mit einer Vielfalt von Formen den unterschiedlichen Zielgruppen gerecht zu werden, als Beispiel: „Festgottesdienste mit Schola, Chor und Orchester, unterschiedliche Predigtformen, Meditationen und Bußgottesdienste, Anspiele und schöpferische Darstellungsformen bei Kinder- und Familien-, Schüler- und Schul- und Jugendgottesdienste, Kranken- und Altengottesdienste, herkömmlich gestaltete Vespergottesdienste mit Männerschola, Wallfahrten und Prozessionen, Tischgruppen-Gottesdienste u.v.a. Bei diesen liturgischen Formen wirkt die Gemeinde durch eine große Zahl von Lektoren, Eucharistiehelfern, Chor- und Scholasängern, Ministranten, Musikanten, durch Frauen und Männer direkt mit.“ Dazu kommen traditionelle Formen wie Andachten, Rosenkranz, eucharistische Anbetung. Höhepunkte sind die Festgottesdienste zu den Kirchenfesten. In jeder Pfarrei gestaltet noch mindestens ein Kirchenchor und der Organist, z. T. in Festanstellung, die Gottesdienste mit, es gibt Pfarreien mit bis zu fünf Chören, Bands, die modernere Formen der Kirchenmusik pflegen, sind nicht selten.

Alle Pfarreien sind im Bereich der Diakonie aktiv. Das geschieht professionell über die drei Sozialstationen, vor allem aber über ein dichtes Netz von ehrenamtlich Tätigen und ihren Gruppen. So kümmern sich fast überall Besuchsdienste und Nachbarschaftshilfen um Notfälle, in einigen Fällen Hospizgruppen um Sterbende, es treffen sich fast überall Mutter-Kind-Gruppen, Frauen, Familienkreise, Senioren, an einigen Orten pflegende Angehörige, Eltern behinderter Kinder. Eine Reihe von Gemeinden unterstützt kontinuierlich Partnergemeinden oder Geistliche in der Dritten Welt.

Bei den in den Gemeinden vertretenen Gruppen fällt auf, dass eine größere Anzahl keiner überlokalen Dachorganisation angehört und nur lokal organisiert ist.60Dazu zählen die meisten Gruppierungen im sozialen Bereich. Bei den Jugendgruppen bilden den Kern die in allen Gemeinden vertretenen Ministranten. Nur von fünf Pfarreien werden Gruppen der „Katholischen Jungen Gemeinde“, in zweien der katholischen Pfadfinder und in einer der Kolpingjugend aufgeführt. Häufig bestehen nur lockere, sehr fluktuierende Gruppierungen, z. T. bloße „Jugendtreffs“, denen die Kirche Räume stellt. Von den etablierten katholischen Verbänden der Erwachsenen sind noch in jeweils einem Drittel der Pfarreien vertreten die Kolpingfamilie, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung und der Katholische Frauenbund mit ganz unterschiedlichen Mitgliederzahlen und Aktivitäten, fast durchweg stark überaltert.

Bruderschaften existieren gerade noch in zwei Pfarreien, in vier noch sehr kleine Franziskanische Gemeinschaften (ehemals „Dritter Orden“). In den Landgemeinden ist man noch stolz, in den Blutreitergruppen dem „Herrgott zu Pferde zu begegnen“.61Von den neueren geistlichen Bewegungen gibt es in mehreren Gemeinden Schönstatt-Gruppen, in einigen Charismatiker und Cursillo-Gruppen. Daneben finden sich aber in einer Vielzahl von Gemeinden informelle Gebetsgruppen und Bibelkreise zusammen, temporär bilden sich Gruppen zur Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung. In vielfältigen Formen wird die Begegnung mit den evangelischen Gemeinden gesucht, in ökumenischen Gottesdiensten, Bibelwochen bis hin zum Predigttausch.

Die Beschreibungen vermitteln ein eindrucksvolles Bild eines überaus lebendigen Gemeindelebens, getragen nicht mehr so sehr durch eine schwindende Zahl von Priestern, als von aktiven Gemeindemitgliedern. Diese organisieren und engagieren sich weniger im dichten Netz des einstmals mächtigen „Verbandskatholizismus“, als in einer unübersichtlichen Fülle von Ehrenämtern und informellen, z.T. wenig stabilen, fluktuierenden Gruppierungen. Es ist das Bild einer Binnenwelt, das wenig aussagt über den Stellenwert der Kirche(n) in der lokalen und regionalen Gesellschaft. Vorab kann resümiert werden, dass der Personenkreis mit intensiver Kirchenbindung immer kleiner wird, aber sich noch nie ein so großer Teil dieser „Kernchristen“ aktiv engagiert hat.

Das Bild aus der Binnenperspektive ist ergänzungsbedürftig durch einige Feststellungen, die sich nicht in den Berichten finden, die aber jedem Beobachter zugänglich und in Gesprächen artikuliert werden:62

  • Die wenigen Priester sind überlastet, über die Kasualien, die Feier der Eucharistie und die Spendung der Sakramente hinaus finden sie kaum Zeit für Seelsorge.63 Die Diakone, Laientheologen und aktiven Laien können mangels Amtscharisma und sakramentaler Kompetenz nicht in gleicher Weise Leitfiguren sein.

  • Wie die Formen des Glaubenslebens und der Aktivitäten sich pluralisiert haben, so lassen sich in Kirchenvolk und Klerus deutliche Fraktionierungen ausmachen. Gerade die jüngeren Geistlichen sind „wieder eher konservativ eingestellt“. Fragen der Gottesdienstgestaltung, Direktiven aus Rom reißen immer wieder Fronten den Gemeinden auf, treiben Aktive in die Resignation und bereits Fernstehende zum Austritt.

  • Auch beim noch aktiven Kirchenvolk werden die kirchlichen Normen und Dogmen kaum noch als verbindlich akzeptiert. Das gilt vor allem für Fragen der Moral, aber bis hin zu Grundaussagen des Glaubens.64

  • Erstkommunion und Firmung bilden eine entscheidende Zäsur. Jugendliche, jüngere und mittlere Erwachsene sieht man wenige in den Kirchenbänken. „Wer nicht zu den Ministranten oder in eine kirchliche Jugendgruppe geht, ist für die Kirche verloren“, klagt ein Pfarrer.

  • Wenn in „mindestens neun von zehn Wohnungen kein Kreuz, kein christliches Zeichen mehr hängt“, ist der Glaube selbst im Privatleben kaum mehr präsent. Und auch „das Glaubenswissen ist sehr dünn geworden“.

  • In der Öffentlichkeit des Alltags ist die Kirche nur mehr durch ihre Bauten, nicht mehr durch ihr Personal präsent. Die ohnehin weniger gewordenen Weltpriester und Ordensleute tragen i.d.R. nicht mehr ihre „Berufskleidung“, Soutane, römischen Kragen oder Ordenshabit und sind damit bestenfalls noch an einem winzigen Kreuz erkennbar. Wie soll aber ein Anspruch von Glauben auf allgemeine Verbindlichkeit aufrecht erhalten bleiben, wenn selbst Kleriker ihr Bekenntnis privatisieren und öffentliche Präsenz Sekten und nichtchristlichen Religionen überlassen.

  • Eine starke Konkurrenz zu den traditionellen Angeboten der Kirche bietet der weite expandierende Markt der Esoterik. Auch in oberschwäbischen Buchhandlungen ist die Abteilung Esoterik um das mehrfache besser bestückt als die Abteilung Theologie. In den Programmen der kirchlichen Bildungshäuser und Bildungswerke dominieren Themen der Psychologie, Lebenshilfe, kunsthandwerkliches Gestalten und des Grenzbereichs zur Esoterik.65

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