Elmar L. Kuhn

Die Säkularisierung Oberschwabens


 

 

Quantitative Daten

Nachdem sich mit den bisherigen qualitativen Befunden ein zwar umfassendes, aber eher impressionistisches Bild der Situation abzeichnet, lassen sich anhand der folgenden quantitativen Daten einige Befunde präziser fassen. Dazu wurden Daten der amtlichen und kirchlichen Statistik ausgewertet.66

Eine Konfessionskarte von Baden-Württemberg spiegelt trotz aller Bevölkerungsbewegungen des 20. Jahrhunderts die Territorialstruktur der frühen Neuzeit wieder.67Das Schaubild 1 mit der Religionsstatistik von Oberschwaben gibt zunächst einen Überblick über die Bevölkerungsentwicklung.68Während im ganzen 19. Jahrhundert die Bevölkerung um weniger als 50 % von 214 000 auf 310 000 zunimmt, hat sie sich seit 1950 von 462 000 (neue Verwaltungseinteilung) auf 790 000 um ca. 70 % erhöht. Zu Beginn dieses Zeitraums 1832 waren 93 % Katholiken und 7 % Protestanten. Das streute von 0 % Protestanten im Oberamt Saulgau bis zu 14 % im Oberamt Biberach. Höhere Anteile von um 10 % Protestanten fanden sich auch noch in den Oberämtern Ehingen und Laupheim. Der Katholikenanteil in Oberschwaben hielt sich bis 1933 auf über 90 %, ging 1950 auf 83, 1970 auf 79 und bis 1987 auf 74 % zurück, heute dürfte er unter 70 % bei noch etwa 2/3 der Bevölkerung liegen. Die Zahl der Protestanten stieg im 19. Jahrhundert auf 10 % und hielt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei 18 %. 1987 wurden 2 % Muslime und 3 % ohne Religionsangabe gezählt, diese Zahlen dürften sich mittlerweile mindestens verdreifacht haben. Leider verfügen wir seit der Volkszählung von 1987 über keine neueren Zahlen der Religions- und Konfessionsstatistik.69

Im Schaubild von Biberach sind zunächst die Brüche durch die Kreisreformen von 1938 und 1973 zu bedenken. Biberach fängt mit einem hohen Anteil von Protestanten an und gleicht sich im 20. Jahrhundert dem oberschwäbischen Durchschnitt mit unter 20 % an. Im Landkreis Tettnang bzw. dem Bodenseekreis geht der Anteil der Katholiken relativ kontinuierlich von 99 % zurück, nähert sich den Biberacher Zahlen in der Weimarer Republik mit 85 % und ist 1987 auf 65 % gefallen, der Anteil der Protestanten hält sich seit den 60er Jahren bei einem Viertel. Schon 1987 bezeichnen sich hier 6 % als religionslos und es gibt in diesem Jahr bereits eine Wohngemeinde, in der die Katholiken eine Minderheit unter 50 % bilden.

In Schaubild 2 folgt die Entwicklung der Katholikenzahlen bis in die 60er Jahre im wesentlichen der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung. Im Dekanat Biberach zeichnet sich ein relativ gleichbleibender langsamer Anstieg ab, während im Dekanat Friedrichshafen nach einer starken Wachstumsphase in den 60er Jahren ein langsamer absoluter Rückgang in den 90er Jahren erfolgt, in beiden Fällen bei weiterem generellen Bevölkerungswachstum.70

Die folgenden Schaubilder geben Aufschluss über die Gründe. Die Kirchenaustritte haben sich nach einer ersten Austrittswelle in der Nazizeit in der Diözese in den 70er Jahrenzunächst deutlich auf 0,2 % verdoppelt und liegen jetzt durchschnittlich bei einem halben Prozent jährlich (Schaubild 3). Ebenso viele treten mittlerweile im Dekanat Friedrichshafenaus, während im Dekanat Biberach etwa 0,3 % jährlich die Kirche verlassen.71

Bei den Taufen fallen zunächst die hohen Geburtenraten im ländlichen Dekanat Biberach vor dem ersten Weltkrieg, in beiden Dekanaten in der nationalsozialistischen Rüstungskonjunktur und der Babyboom der 60er Jahre auf (Schaubild 4). Dagegen fehlt der zu erwartende Boom in den 90er Jahren. „Fast alle lassen ihr Kind noch taufen, ...90 % mindestens, also nicht mehr gar alle, aber die allermeisten.“72 Die Zahl der Taufen übersteigt nur noch im Dekanat Biberach die Zahl der Beerdigungen. Damit geht schon aufgrund der natürlichen Bevölkerungsbewegung die Zahl der Katholiken tendenziell absolut zurück.Geburtensaldo und Austritte zusammen hätten die Katholikenzahlen schon seit den 70erJahren fallen lassen, nur die Zuzüge glichen den Rückgang lange aus.

Fast „alle getauften Kinder gehen auch zur Erstkommunion“.73„Bei der Firmung sieht es schon ein bisschen anders aus, da ist es ja auch bereits eine persönliche Entscheidung des Firmlings“. Soweit ein Zahlenvergleich möglich ist, lassen sich in der Diözese etwa 20%, im Dekanat Friedrichshafen etwa 10 % nicht mehr firmen, im Dekanat Biberach noch fast alle.74

Die Entwicklung der Trauungen entspricht wie zu erwarten in etwa der Entwicklung der Taufen und wird mittlerweile nur noch von den Zahlen im ersten Weltkrieg unterboten (Schaubild 5). Im Bundesdurchschnitt heiraten nur noch ein Drittel der Paare, die sich zivil trauen lassen und von denen wenigstens ein Partner katholisch ist, überhaupt noch kirchlich und auch von den Paaren, bei denen beide Partner katholisch, treten nur noch etwas mehr als die Hälfte vor den Traualtar. Leider liegen für die Konfessionen der Ehepartner keine regionalen Zahlen vor, der Anteil der kirchlich Heiratenden dürfte in der Region jedoch deutlich höher als im Bundesdurchschnitt liegen. Allerdings bleibt einer zunehmenden Zahl von Katholiken die kirchliche Trauung verwehrt, da sie geschieden sind.75

Der Besuch der Sonntagsmesse ist sicherlich kein Indikator für Frömmigkeit, wohl aber für Kirchlichkeit und dafür sicherlich noch einer der besten Indikatoren.76Die Pflicht zum Besuch der Sonntagsmesse ist eines der Kirchengebote und noch der neue katholische Weltkatechismus wertet das bewusste Fernbleiben als schwere Sünde. Die Maximalwerte der Vergangenheit, die nie überschritten wurden, liegen bei etwa zwei Drittel. Das war auch der Ausgangsstand im Dekanat Biberach, seither ist der Besuch der Sonntagsmesse kontinuierlich auf weniger als ein Viertel zurückgegangen und liegt damit noch knapp über dem oberschwäbischen Durchschnitt mit 19 % (Schaubild 6). Das Dekanat Tettnang/Friedrichshafen bewegt sich seit den 70er Jahren etwa um den Diözesan-Durchschnitt und unterschreitet ihn jetzt sogar noch mit 13 %. Diese Durchschnittswerte variieren im Dekanat Friedrichshafen zwischen 5 % in einer Friedrichshafener Pfarrei und 38% in einer sehr ländlichen Pfarrei, im Dekanat Biberach zwischen 7 und 51 %, in der Diözese zwischen 7 % im Dekanat Mühlacker bei Stuttgart und 27 % im Dekanat Ellwangen, in den alten Bundesländern 1998 zwischen der Diözese Essen mit 13 und der Diözese Regensburg mit 26 %.77

Ein Blick auf die Priesterversorgung in der Diözese zeigt, wie die Schere zwischen Zahl der aktiven Priester und der Pfarreien seit den 1970er Jahren immer weiter auseinander geht. Ein Drittel der Pfarreien haben keinen eigenen Pfarrer mehr. Der Altersdurchschnitt der Priester im Gemeindedienst der Diözese liegt bei 52 Jahren, der Priester in den Klöstern gar bei 66 Jahren. Die Versorgung mit Priestern wird sich weiter verschlechtern, wenn man sich die Entwicklung der Priesterweihen ansieht, die in der Diözese von durchschnittlich 30 in den 50er und 60er Jahren auf unter 10 gefallen sind.78Betreute vor dem ersten Weltkrieg ein Priester im Gemeindedienst etwa 680 Katholiken in der Diözese, so stieg deren Zahl in den 30er Jahren auf etwa 900, in den 50er Jahren auf 1500, in den 70er Jahren auf über 2000, heute auf über 2500.79Im Dekanat Biberach sah die pastorale Situation immer etwas günstiger, im Dekanat Friedrichshafen etwas schlechter aus. Heute muss sich ein Priester im Dekanat Friedrichshafen um durchschnittlich 3400 Gemeindemitglieder kümmern.

Katholizität und Kirchlichkeit korrelierten in der Vergangenheit mit Ländlichkeit, d.h. einer Sozialstruktur mit einem hohen Anteil von in der Landwirtschaft Beschäftigten. Im Bezirk Biberach waren ursprünglich zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, 1950 noch die Hälfte, 1987 noch 8 %, heute höchstens noch die Hälfte davon (Schaubild 7). Im Bezirk Tettnang arbeiteten zunächst ebenfalls zwei Drittel in der Landwirtschaft, 1950 schon nur noch ein Drittel, 1987 noch 5 %, heute vielleicht noch 2 % wie im Landesdurchschnitt.80Bei der Volkzählung von 1987 war Oberschwaben noch überdurchschnittlich landwirtschaftlich geprägt, aber bei einem Anteil von heute bestenfalls 5 % in der Landwirtschaft Tätigen kann nicht mehr von einer ländlichen Region gesprochen werden.81

Wenn sich die „konfessionelle Zugehörigkeit ... immer wieder als der wichtigste Faktor in der Erklärung des Wählerverhaltens in der Bundesrepublik erweist“ und die „Unionsparteien ganz ausgeprägt die Parteien der Kirchengebundenen beider Konfessionen sind, wobei die Quote der Katholiken wesentlich höher ist als die der Protestanten“,82so könnten auch die regionalen Wahldaten als Indikatoren für Kirchlichkeit benutzt werden (Schaubild 8). Bis 1991 haben mit Ausnahme von 1933 immer mehr als 60 % der Wahlberechtigten im Landkreis Biberach für das Zentrum oder die CDU gestimmt, bei den letzten Bundestagswahlen immer noch mehr als 50 %, im Landkreis Tettnang bzw. Bodenseekreis entschieden sich immer etwa 10 % weniger für diese Parteien.83Aber Motiv für diese Wahlentscheidungen sind heute bei den meisten Wählern nicht mehr deren Kirchenbindung, sondern fortwirkende Mentalitätszüge, auch wenn das ursprünglich prägende Milieu bereits zerfällt, und zweckrationale Optionen. Die Parteienbindung erweist sich im Gegensatz zur Kirchenbindung als relativ stabil, da sie auch zweckrationalen Kriterien standhält. Nicht wenige in der Kirche Aktive entscheiden sich dagegen nach wertrationalen Kriterien für die Grünen.84

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